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Pressedienst Wissenschaft der Freien Universitaet Berlin

Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?

Eine typisch deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis zum Wirtschaftswunder

"Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?" Unter diesem provokanten Titel hat Peter Suess, Historiker, Buch- und Fernsehautor, seine Dissertation an der Freien Universitaet Berlin veroeffentlicht. In ihr setzt er sich mit der ueber hundertjaehrigen Unternehmensgeschichte der Berliner Firma Ehrich & Graetz auseinander. Bekannt als Marktfuehrer fuer Petroleum- und Gasleuchten, lieferte Ehrich & Graetz waehrend der Weltkriege Waffen und Munition, war besonders erfolgreich mit der Herstellung von Foerderpumpen und Elektrik, um in den Zeiten des Wirtschaftswunders Schwarzweissfernseher und Musiktruhen zu liefern. Im Dritten Reich fuehrte die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Juden zu einem Aufstieg des Geschaefts bis hin zu einer Monopolstellung. Mit Hilfe eines zehn Meter umfassenden Aktenbestandes des Unternehmens sowie durch Auswertung vieler anderer Quellen gelingt es Peter Suess auf ueberzeugende Weise, eine spannende Berliner Firmengeschichte im Spiegel der deutschen Zeitlaeufe zu erzaehlen.

1859 entwickelte der Berliner Klempnermeister Albert Graetz die erste einwandfrei brennende Petroleumlampe und stieg damit vom Handwerker zum Fabrikherren auf. Gemeinsam mit dem Kaufmann Emil Ehrich gruendete Graetz 1866 die offene Handelsgesellschaft "Ehrich & Graetz". Das Geschaeft weitete die Produktion auf Haenge-, Tisch- und Wandlampen sowie auf Petroleumoefen aus. Wenig spaeter wird eine moderne Produktionsstaette im damaligen Berlin SO 36 eroeffnet. Als Vater Albert 1889 die Firma auf seine Soehne uebertraegt, zaehlt sie ueber 100 Angestellte. 1899 zieht das Werk in einen Fabrikneubau in das sich entwickelnde Treptow. Der Wechsel von Petroleum- auf Gasfabrikate fuehrte zum Durchbruch der Gasbeleuchtung im Industrie-, Geschaefts- und Wohnungssektor. Noch heute zeugen aus dem Deckenstuck senkrecht stehende Gasrohre in Berliner Altbauwohnungen von der revolutionaeren Neuerung.

Der Kriegsausbruch im August 1914 traf die deutsche Industrie ueberraschend. Die Londoner und Pariser Tochterfirmen Erich & Graetz wurden beschlagnahmt. Die englische Seeblockade verhinderte die Sicherung der Ernaehrung und der zur Produktion noetigen Rohstoffe. Nur kriegswichtige Industrien konnten noch versorgt werden. Rasch stellte die Firma ihre Produktion auf Waffen und Munition um. Bis 1917 wuchs der Markt bei garantierter Abnahme. Nachdem das Heer 1918 alle Bestellungen storniert hatte, spuerte die Wirtschaft die Abschnuerung vom Weltmarkt und brach zusammen. Nicht wenige Firmen profitierten vom Krieg. Unter ihnen Erich & Graetz.

Durch und durch Patriarch, gehoerte Max Graetz zu den Kritikern der Weimarer Republik. Die Bilanzsumme der Ehrich & Graetz AG vervielfachte sich zwar durch die Inflation von 507,2 Millionen 1922 auf ueber 52,4 Billiarden Mark im Jahr 1923. Doch trotz der Erweiterung der Produktpalette durch Elektronikgeraete, wie Wasserkocher, Elektroherde und Oefen sowie dem Einstieg in die Radioproduktion, wuchs der Gewinn des Unternehmens nur langsam. Denn nach dem Platzen der kreditfinanzierten Boersenspekulationen hatten die Menschen keine Lust mehr auf Konsum. Auch wuchs waehrend der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosenzahl auf ueber sechs Millionen an.

Vertrauend auf die enormen Gewinne, die das Unternehmen im Ersten Weltkrieg erwirtschaftet hatte, konzentrierte sich die Ehrich & Graetz AG ab Ende 1933 auf Kriegsgueterproduktion. Als 1936 Max Graetz starb, trat sein Sohn Erich die Nachfolge als "Betriebsfuehrer" an. Die Firma profitierte vom Nationalsozialismus: Sowohl Arbeitsplaetze als auch Produktion, Rentabilitaet und Umsaetze konnten gesteigert werden. Waehrend des 2. Weltkrieges wurde der Ressourcenknappheit mit der Ausbeutung der besetzten Westgebiete begegnet: Was fehlte, waren Arbeitskraefte.

Im September 1940 errichtete die Ehrich & Graetz AG die erste "Juden-Abteilung". 300 bis 350 Zwangsarbeiter sollten die Produktion garantieren. Die juedischen Zwangsarbeiter mussten besonders harte Arbeit leisten, wofuer sie schlecht oder gar nicht entlohnt wurden und zudem noch in die hoechste Steuerstufe eingruppiert waren, an Sonderleistungen nicht teilhatten und von den "arischen" Kollegen abgesondert arbeiten mussten. Die Werksleitung nutzte jeden Spielraum zum eigenen Vorteil aus. Am 27. Februar 1943 umstellte die SS das Gelaende der Ehrich & Graetz AG und liess die letzten juedischen Arbeiter abtransportieren. Der Betriebsfuehrer Erich Graetz beschwerte sich nur ueber den schmerzhaften Verlust der Arbeitskraft der "Nichtarier".

Neben den juedischen wurden auch russische, franzoesische und hollaendische Zwangsarbeiter deportiert und in Baracken auf dem Werksgelaende untergebracht. Jeder hatte einen Lebensraum von zwei Quadratmetern. Auf dem Hoehepunkt der Produktivitaet arbeiteten bei der Ehrich & Graetz AG etwa 1100 Zwangsarbeiter. Trotz massiver Bombardierung deutscher Industrie- und Stadtgebiete vervielfachte sich die Ruestungsproduktion von 1942 an, bis sie 1944 ihren Hoechststand erreichte. Kurz vor Kriegsende wurden Betriebsteile der Ehrich & Graetz AG sowohl nach Lunzenau in Sachsen als auch nach Bregenz gebracht. Ende April 1945 eroberte die Rote Armee Berlin-Treptow.

Unmittelbar nach dem Krieg wurden neun Zehntel der Maschinen in die Sowjetunion abgefuehrt. Die verbleibenden Arbeiter reparierten die restlichen Maschinen und nahmen im Sommer 1945 die Arbeit wieder auf. Die Belegschaft lehnte Fritz Graetz als Leiter ab, verdrossen fuhr er zurueck in den Westsektor. 1949 wurde die Firma als Volkseigentum zum VEB Fernmeldewerk Treptow.

Im westfaelischen Altena gruendeten 1948 Erich und Fritz die Graetz KG und bauten zum Teil mit den waehrend der NS-Zeit nach Bregenz ueberfuehrten Maschinen ein neues Werk auf. Waehrend des Wirtschaftsbooms in den fuenfziger Jahren stellte das Werk Fernseher, Musiktruhen und Strahlenmessgeraete her. 1961 verkaufte Erich Graetz die Firma an die Standart Elektrik Lorenz. Damit endeten fast hundert Jahre Unternehmensgeschichte.

Peter Suess findet ein treffendes Ende fuer seine durchweg lebendige und kritische Dissertation: "Die Familie Graetz und ihr Unternehmen von der Kaiserzeit bis in die Bundesrepublik - eine Geschichte von Erfindertum, Solidaritaet und Erfolg. Aber auch eine von Opportunismus, Niedertracht und Verdraengung. Eine exemplarische Geschichte - und eine sehr deutsche."

Von Florian Hertel, 28. August 2003

Literatur: Peter Suess, "Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?" Graetz - Eine Familie und ihr Unternehmen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Paderborn/Muenchen/Wien/Zuerich: Ferdinand Schoeningh, 2003, ISBN 3-506-78561-3

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern: Dr. Peter Suess, E-Mail: psbln@gmx.de



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© 2003 Kultura (alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Küstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar.)
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