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"Den Verteidigern der russischen Erde..."

Poklonnaja Gora: Erinnerungskultur im postkommunistischen Rußland

von Lars Karl

   
Skulptur "Für alle Gefallenen", Bildhauer: V.I. Znoba
© Verlag Panorama, Moskau 1996



"Ich möchte einen Toast auf das Wohl unseres Sowjetvolkes und vor allem auf das des russischen Volkes ausbringen.
Ich trinke vor allem auf das Wohl des russischen Volkes, weil es die hervorragendste Nation unter allen zur Sowjetunion gehörenden Nationen ist."

(Stalin, 24. Mai 1945)



Ausschnitt des Schlachtendioramas im Innern des Erinnerungskomplexes von
Poklonnaja Gora


22.11.1942, westlich von Stalingrad. Die sowjetischen Stoßkeile, die zur Einkesselung der 6. deutschen Armee unter General Paulus eingesetzt wurden, haben sich vereinigt. Rotarmisten springen von ihren Panzern, laufen durch den Schnee, fallen sich in die Arme. Unter dem rauchigen Himmel flattern rote Banner. Ein jugendlich wirkender und vor Kraft strotzender Infanterist feuert vor Freunde MG-Salven in die Luft. Abseits der Verbrüderungsszene gefangene deutsche Landser - in Lumpen gehüllte Gestalten mit aschfahlen Gesichtern.
Die Darstellung des Schlachtendioramas im Innern des Erinnerungskomplexes von Poklonnaja Gora trägt unverkennbar die Züge der zu Sowjetzeiten allzu exzessiv begangenen Heroisierung und Glorifizierung der Ereignisse an der Ostfront - jener Ereignisse, die schon während ihres Geschehens sowjetischerseits als der "Große Vaterländische Krieg" bezeichnet wurden.
Die Handschrift der monumentalen, auf Dreidimensionalität ausgerichteten Schlachtengemälde, die dem Betrachter in chronologischer Reihenfolge die sechs wichtigsten Etappen des Sieges vor Augen führen, ist sowjetisch, ihre Erstellung geht jedoch auf das Jahr 1995 zurück. Im Auftrag der Regierung Jelzin erstellte das Grekov-Studio für Schlachtenmalerei in Moskau ein Potpourri im Stil des Sozialistischen Realismus.


Gesamtansicht Park Pobedy mit beleuchtetem Obelisk und der Kirche des Hl.Georg (links) / © www.goldenring.ru



Seit einigen Jahren ist am Rande des Park Pobedy, des "Siegesparks" im Westen Moskaus, dieser monumentale Erinnerungskomplex zu Ehren der russischen Toten des Zweiten Weltkriegs zu bestaunen. Die Errichtung des auf einer Fläche von fast 140 Hektar verteilten Ensembles war von langer Hand geplant worden: Der ZK-Beschluß für dessen Errichtung geht bereits auf das Jahre 1957 zurück. Unstimmigkeiten über die Konzeption, Materialmangel und andere Bautätigkeiten entlang des in unmittelbarer Nähe gelegenen Kutusovskij Prospekt verzögerten den Baubeginn jedoch bis ins Jahre 1984.
Der damalige Entwurf ist typisch für die während der Brežnev-Ära errichteten Gedenkstätten: Ein zentraler Museumskomplex, umgeben von einem monumentalen Ensemble aus fünf Treppenaufgängen - stellvertretend für die fünf Kriegsjahre - und verziert mit pompösen Reliefs der wichtigsten Kriegsereignisse. Dazu Wasserfontänen mit exakt 1418 Düsen - je eine für jeden Tag des Krieges. Nikolaj Tomskij, damaliger Präsident der Akademie der Künste der UdSSR, lieferte den Entwurf für das gigantische Denkmal, das vor dem Museumskomplex errichtet werden sollte: ein 70 Meter hohes, wehendes Banner aus rotem Granit - stellvertretend für die in den letzten Kriegstagen über dem Reichstag gesetzte Fahne der Sowjetarmee. Darunter ein pompöses Relief, auf welchem das Profil des in der damaligen Sowjetunion fast allgegenwärtigen Lenin zu sehen sein sollte. Lenin und Siegesbanner wurden nach diesem Entwurf von einer Gruppe auffällig klein wirkender Sowjetmenschen in die Höhe gehalten. Die aufgrund der Monstrosität des sie überragenden Revolutionsführers fast zu Zwergen degradierten Figuren waren schwerlich dazu geeignet, den Sieg des sowjetischen Volkes im Zweiten Weltkrieg zu versinnbildlichen.
Glasnost' und Perestrojka machten dem Ansinnen der Brežnev-Administration jedoch einen Strich durch die Rechnung: Die Diskussion um das zweifelhafte Vorhaben flammte auf, die Bauarbeiten mußten auf Druck der Öffentlichkeit eingestellt werden. Bis Anfang 1988 hatten sich etwa 470 Alternativentwürfe von Künstlern und Architekten aus allen Teilen des Sowjetreiches angesammelt.
Es blieb lange Zeit unklar, welcher der vielgestaltigen Entwürfe letztendlich in die Tat umgesetzt werden sollte - bis Präsident Jelzin sich persönlich der "Sache" annahm und im Mai 1993 verkündete, der Bau solle innerhalb einer Frist von zwei Jahren - pünktlich zum 50. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg - abgeschlossen sein. Mit der Durchführung seines Plans beauftragte das baufreudige Staatsoberhaupt den für seine termingerechte Lieferungen bekannten - und aufgrund seiner bisherigen Werke höchst umstrittenen - Künstler, Architekten und Bildhauer Zurab Cereteli. Der mittlerweile zum Präsidenten der Russischen Akademie der Künste aufgestiegene Georgier entwarf ein Ensemble, welches sich auch von Fachleuten nur schwer stilistisch einordnen läßt.
Nähert man sich der Anlage von Ferne, fällt zuerst die fast halbrunde Fassade des wuchtigen Hauptgebäudes in den Blick. Aufgrund seiner Monumentalität von den Moskauern oft als "Reichstag" oder "Reichskanzlei" tituliert, bildet der Bau den Hintergrund für das wohl gewaltigste Denkmal der russischen Hauptstadt, den Siegesobelisken: Symbolträchtige 141,8 Meter - zehn Zentimeter für jeden Kriegstag - ragt ein tausend Tonnen schweres Bajonett empor, geschmückt von den in verschiedenen Reliefs eingebetteten Namen der "Heldenstädte". Zu seinen Füßen - Georg der Drachentöter, Schutzheiliger von Moskau und Überwinder alles Bösen. In luftiger Höhe - eine 25 Tonnen schwere Allegorie der Siegesgöttin Nike, begleitet von zwei posaunenblasenden Barockputten. Die Handschrift Ceretelis ist unverkennbar.

Siegesgötting Nike im oberen Drittel des Obelisken
© Verlag Panorama, Moskau 1996
Hl. Georg als Drachentöter am Fuße des Obelisken
© Verlag Panorama, Moskau 1996



Die Inneneinrichtung des Hauptgebäudes erinnert teilweise noch an die monumentalen Kriegsgedenkstätten der Sowjetzeit. Neben den bereits erwähnten Dioramen ist in diesem Zusammenhang vor allem die sogenannte "Halle des Ruhmes" (Zal Slavy) erwähnenswert, die sich ohne weiteres auch in das Mahnmal am Mamaj-Hügel in Wolgograd oder in die Festung von Brest einfügen ließe. In der Mitte der von einer gewaltigen Kuppel überwölbten Marmorhalle - ein überdimensionaler Siegesorden: der rubinrote Stern mit der Aufschrift "Sieg" (Pobeda). Darunter die überlebensgroße Statue des in Siegespose verharrten Rotarmisten. Entlang der kreisrunden Wand die in weißen Marmor gemeißelten Kolonnen derjenigen Sowjetsoldaten, denen während des Krieges der Titel "Held der Sowjetunion", die höchste militärische Auszeichnung der UdSSR, zuteil wurde. Darüber - ebenfalls in Marmor gehauen - Reliefs der zwölf "Heldenstädte".
Im Vergleich dazu mutet die eine Etage tiefer gelegene "Gedächtnishalle" (Zal Pamjati) geradezu moderat an. Während das eine Ende des Saales von der dem Grundtypus einer Pieta entsprechenden Plastik der "Trauernden Mutter" von Lev Kerbel' begrenzt wird, werden in der dem Eingangsbereich zugewandten Hälfte die Zeugnisse einer unwahrscheinlich aufwendigen archivarischen Arbeit ausgestellt: Die "Erinnerungsbücher" (Knigi Pamjati), in denen - nach den einzelnen Föderationssubjekten der ehemaligen UdSSR unterteilt - Informationen zu all denjenigen verzeichnet sind, welche während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben ließen.
Neben "Gedächtnis-" und "Ruhmeshalle" befindet sich im Hauptgebäude der Anlage auch das "Zentrale Museum des Großen Vaterländischen Krieges", einer Ausstellung, in der sich u.a. auch Schaukästen finden, die man in einem sowjetischen Museum wohl vergeblich gesucht hätte. Neben der Rolle der orthodoxen Kirche finden auch die westlichen Alliierten - nicht zuletzt in den auf mehreren Bildschirmen ablaufenden und überraschend unkonventionell geschnittenen Museumsfilmen - wohlwollende Erwähnung. Insgesamt nimmt sich die auf einer Gesamtfläche von fast 34 000 Quadratmetern verteilte Auswahl an Exponaten eher spärlich aus: die Ausstellungsstücke wurden auf Anordnung der russischen Regierung aus allen Teilen des Landes zusammengetragen, sehr zum Leidwesen der betroffenen Museen.
Trotzdem bildet die Ausstellung einen geeigneten Rahmen zum Eintauchen in die Vergangenheit...

Der "Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion"

Der "Große Vaterländische Krieg", der durch den überfallartigen Angriff der deutschen Armeen in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 einleitet wurde, stellte die Macht des Sowjetstaates in einer Weise auf die Probe, die zur Mobilisierung der letzten materiellen, menschlichen und moralischen Reserven zwang. Der Ausgang des Krieges gibt Anlaß zu der Vermutung, daß diese Probe bestanden wurde. Aber gerade in der ersten Hälfte des insgesamt vierjährigen Ringens gab es Phasen, in denen dies den unmittelbar Beteiligten keineswegs so sicher schien. 1941 war die unzureichend vorbereitete Rote Armee in den ersten Kriegsmonaten eindeutig unterlegen, wenn auch die vorrückenden deutschen Armeen sehr bald feststellen mußten, daß ihre Siege im "Ostfeldzug" weit teurer erkauft waren als in den bisherigen "Blitzkriegen". Die Geländegewinne waren beträchtlich, die sowjetischen Verluste enorm, aber Stalin hatte unbestreitbar recht, wenn er am 6. November 1941 vor dem Moskauer Sowjet ausführte, daß das deutsche Ansinnen, die UdSSR binnen weniger Wochen niederzuwerfen, gescheitert sei. Der Versuch, in einer Winteroffensive die Einnahme der sowjetischen Hauptstadt und damit doch noch die Entscheidung zu erzwingen, führte zu den ersten schweren Rückschlägen. Die deutsche Offensive des Jahres 1942 überspannte die eigenen Kräfte, gewann wiederum nur Raum, ohne die gesteckten Ziele zu erreichen, und mündete in die Katastrophe von Stalingrad.
Vom Jahre 1943 an ging das Gesetz des Handelns auf die Rote Armee über, die nun den deutschen Truppen eine Verteidigung aufzwang, in der sie militärisch vielleicht größere Leistungen vollbrachten als bei ihren Angriffsoperationen. Aber trotz allen folgenschweren strategischen Fehlern auf deutscher Seite, für die Hitler zum größten Teil persönlich verantwortlich war und die den sowjetischen Verteidigern ihre Aufgabe teilweise erheblich erleichterte, wurde der Krieg von Deutschland nicht nur militärisch, sondern auch politisch verloren. Und trotz aller berechtigten Zweifel am militärischen Ruhm Stalins, wird sich doch kaum bestreiten lassen, daß der sowjetische Diktator seine politische Aufgabe erfolgreich löste. Sieht man von dem ungleichen, auf menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen basierenden Kriegspotential der Gegner ab, welches sich auf die Dauer zuungunsten Deutschlands auswirken mußte, so waren die politischen Chancen zunächst nicht so ungleich verteilt. Aber während auf der einen Seite Stalin alles tat, den Schwächen seiner Position entgegenzuwirken, indem er unter dem Banner der Vaterlandsverteidigung zumindest bei den Russen die Schattenseiten seiner Herrschaft etwas in Vergessenheit geraten ließ, ohne doch im mindesten das Gefüge seines totalitären Imperiums zu lockern, geschah auf deutscher Seite so gut wie nichts, die innerhalb der Bevölkerung der besetzten Gebiete bestehenden nationalen und sozialen Ressentiments gegen die bolschewistische Sowjetmacht zu mobilisieren.
Der Angriff der deutschen Armeen machte die Russen zu heimattreuen Landesverteidigern, die Konzeptionslosigkeit und Brutalität der zivilen deutschen Besatzungspolitik trieb vorhandene Opposition aller Art sehr bald wieder der Sowjetmacht als dem immer noch geringeren Übel zu. Beides hat sich der sowjetische Diktator sehr geschickt zunutze gemacht. Während sich die Deutschen durch die Anweisungen ihrer verblendeten Führung allmählich den Haß aller Nationen zuzogen und ihre schwer kämpfenden Armeen, wo immer sie auch standen, durch eine stetig zunehmende Partisanenbewegung in ihrem Rücken bedroht wurden, verstand es Stalin, zumindest nach außen den Eindruck zu erwecken, als sei die UdSSR in ihrer Schicksalsprüfung ein relativ toleranter und ausschließlich von den patriotischen Zielen der Verteidigung und Sicherheit bestimmter Staat geworden. Spätestens im Sommer 1943 hatte man sich in Großbritannien und in den Vereinigten Staates bereits an den Gedanken gewöhnt, daß die Sowjetunion in der Mächtekonstellation Nachkriegseuropas eine beherrschende Stellung einnehmen werde. Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht gegenüber der Roten Armee am 8. Mai 1945 schuf das militärische fait accompli einer russisch-sowjetischen Machtexpansion bis zur Elbe, das Stalin auf der Potsdamer Konferenz nur mehr in politische Formeln umzumünzen brauchte.
Der 9. Mai, der "Tag des Sieges" war in der Sowjetunion von ganz besonderer Bedeutung. Nach den Worten des russischen Historikers Alexander Grossman war er "wohl der einzige Tag in der politischen Kultur der Sowjetunion, an dem der offizielle Standpunkt der KPdSU und die persönlichen Erfahrungen der Menschen übereinstimmten. Der Krieg, der praktisch keine sowjetische Familie unbeteiligt gelassen hatte, war eines der wenigen Ereignisse in der Geschichte der UdSSR, bei dem sich die ideologischen Geltungsansprüche der Partei mit den Einschätzungen und der Anerkennung durch die sowjetischen Bürger deckten."
Auf alle Fälle bot er der politischen Führung der UdSSR einen propagandistischen Anlaß, um die Überlegenheit des Sozialismus zu unterstreichen. Feiertage wie der "Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg" waren ein wichtiges Instrument, um Herrschaft zu legitimieren sowie Herrschaftsansprüche zu artikulieren. "Geschichte" diente als säkularer Religionsersatz, als Mobilisierungsressource zur Stärkung des Sowjetsystems.


In Poklonnaja Gora finden sich jedoch auch Elemente einer neuen, traditionalistischen Erinnerungskultur, die dem roten Religionsersatz zugunsten eines "wahren" Glaubens kündigen. Die eher konventionell gestaltete, ebenfalls dem Heiligen Georg geweihte orthodoxe Kirche scheint an eine im zaristischen Rußland von staatlicher Seite gepflegte Tradition anknüpfen zu wollen: Bereits im Jahre 1555 ließ Ivan der Schreckliche auf dem Roten Platz aus Anlaß des Sieges über seine tatarischen Gegner die Basiliuskathedrale errichten, die jüngst rekonstruierte Christus-

Kirche des Hl.Georg
© www.russiajournal.com

Erlöserkirche am Ufer der Moskva verdankt ihre Existenz dem Sieg der russischen Armeen über Napoleon. Militärische Siege fanden vor der Oktoberrevolution stets in groß angelegten Sakralbauten ihren Niederschlag.

Innenansicht der Kirche des Hl.Georg, Blick auf Apsis mit russischen Ikonen
© www.goldenring.ru


Doch nicht nur die russische Orthodoxie ist auf dem Geländes des "Siegesparks" in Form eines Gotteshauses vertreten. In einem anderen, für den größten Teil der Besucher wohl eher abgelegenen Teil des Areals befindet sich eine Moschee sowie eine katholische Kirche, stellvertretend für das religiöse Bekenntnis aller Moslems und Katholiken, die im Krieg auf sowjetischer Seite ihr Leben ließen. Die Synagoge wurde erst später fertiggestellt - Diskussionen um ihre Errichtung hatten den Baubeginn verzögert.

Die verratene Armee - der Stolz der Verlorenen

Tadellos instand gesetzt sind dagegen vier an verschiedenen Stellen im Park gelegene Ausstellungsflächen, auf denen sich der Besucher über die wehrtechnischen Errungenschaften der verflossenen Sowjetmacht informieren kann. Schweres Kriegsgerät von Marine, Heer und Luftwaffe, vom plankpolierten T-34 bis zur legendenumwobenen "Katjuscha", wie der Granatwerfer von den sowjetischen Soldaten fast liebevoll genannt wurde.


Austelltung der Bodenstreitkräft im Siegespark
© Verlag Panorama, Moskau 1996


Tatsächlich läßt sich die überragende Rolle, die der Roten Armee in der fast siebzigjährigen Geschichte des Sowjetreichs zukommt, nicht leugnen. In fast allen entscheidenden Situationen hatte sie sich sowohl nach innen als auch nach außen als die mächtigste Säule des Kreml-Regimes bewährt. Ohne den Erfolg der roten Truppen im Bürgerkrieg - sie wurden übrigens auf Betreiben Trotzkijs größtenteils von ehemaligen Offizieren der zaristischen Armee angeführt - wäre wohl die Oktoberrevolution nur eine kurzlebige Episode geblieben. Es war in erster Linie die Macht der Waffen und nicht die Überzeugungskraft der Ideologie, die es der Parteiführung erlaubte, ihre Herrschaft im Lande zu konsolidieren und später weit über die ursprünglichen Grenzen hinaus zu erweitern. Neben dem erfolgreichen Grenzkrieg gegen China 1929, der Besetzung Polens, Bessarabiens und des Baltikums im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts versetzten die Rückschlage im Winterkrieg 1939/40 gegen das kleine Finnland dem Vertrauen in die Stärke der sowjetischen Streitkräfte allerdings einen ersten Dämpfer.
Der eigentliche Mythos von der Roten Armee aber wurde zweifellos erst durch die im Ganzen gesehen gewaltigen militärischen Leistungen während des Zweiten Weltkrieges geschaffen. Die ungeheuren Leiden, die in jenen Jahren über Rußland hereinbrachen, und der berechtigte Stolz auf den durch gemeinsame Anstrengungen errungenen Sieg haben Armee und Volk damals eng zusammengeschweißt. Noch heute bildet das Erlebnis des "Großen Vaterländischen Krieges" eine der mächtigsten Nährquellen des breit verwurzelten Patriotismus, in dem sowohl russisch-nationale als auch sowjetisch-ideologische Gefühlselemente ineinanderfließen. Das Regime scheute denn auch keinen Aufwand, um die Erinnerungen an die heroischen Kriegsjahre wachzuhalten und, namentlich für die jüngere Generation, ins Legendäre zu verklären.
Fraglos gehörte die Armee zu den wirksamsten Integrations- und Indoktrinierungsinstitutionen der Sowjetherrschaft. Es gab kaum eine Organisation im roten Imperium, die nicht in irgendeiner Form einen "militärpatriotischen Erziehungsauftrag" zu erfüllen hatte. Diese Erziehung begann schon in der Schule und in den paramilitärisch organisierten Pioniereinheiten. Jedes Schuljahr wurde mit einer "Stunde der Tapferkeit" eröffnet, ausgefüllt mit patriotischen Berichten und Darbietungen. Häufig wurden Treffen mit ehrwürdigen Kriegsveteranen veranstaltet; man unternahm "Agitationsmärsche", und die Presse berichtete mitunter von großangelegten "Kindermanövern". Neben der intensiven Förderung vormilitärischer Ertüchtigung diente das militärpatriotische Unterrichtswesen einem wichtigen ideologischen Ziel: Es sollte begreiflich machen, weshalb ein "friedliebender sozialistischer Staat" trotzdem eine derart mächtige und kostspielige Armee brauchte. Das Grundmuster lautete: Solange der "Imperialismus" existiert, kann der Sozialismus auf eine starke Streitmacht nicht verzichten.
Selbst als der ideologische Überbau seinen Glanz verlor, garantierte die Rote Armee den Zusammenhalt des Imperiums. Am Ende allerdings vermochte auch sie nicht mehr standzuhalten in der sich wandelnden Welt. Die Streitkräfte blieben zurück wie ein Dinosaurier, dem veränderte Lebensbedingungen einen langsamen Tod beschieden.
Die russische Armee ist nun dort angekommen, von wo sie einst ihren sowjetischen Siegeszug antrat: in Elend und Selbstzweifeln. Das russische Verteidigungsministerium verfolgt dagegen eine doppelte Strategie. Auf der einen Seite klagt es permanent im Parlament mehr Geld ein - ohne freilich Abrechnungen in einzelnen Haushaltsposten auf den Tisch zu legen, was den Verdacht des Mißbrauchs nahelegt - auf der anderen Seite erteilt es strengen Befehl, die tatsächliche Lage der Truppe vor Journalisten zu verbergen. Bilder von hungernden, abgerissenen Soldaten verletzen die Ehre der Oberkommandierenden. Sie tragen auch nicht dazu bei, die in der Bevölkerung weitverbreitete Abneigung gegen das Militärleben abzubauen. Bei Eltern löst der Gedanke an die Wehrpflicht des Sohnes Panik aus. Immer noch kommen Jahr für Jahr Hunderte von Rekruten um, weil sie geschunden worden sind oder weil sie sich der Schinderei durch Selbstmord entzogen haben. Die Soldatenmütter, die sich im Tschetschenien-Krieg zwischen die Fronten wagten, um ihre Söhne zu suchen, fanden ursprünglich zusammen, um sich gegen die Lebensbedingungen der Wehrpflichtigen im "normalen" Dienst zu wehren.

"Kein See ohne Wasser, kein Krieg ohne Blut..." (Russisches Sprichwort)

An anderer Stelle des "Siegesparks" regt eine Plastik des Künstlers A. Bicugov zum Nachdenken an. Zašcitnikam zemli possijskoj - "Den Verteidigern der russischen Erde". Nebeneinander blicken ein mittelalterlicher Recke mit Schwert und Schild, ein Soldat des "Vaterländischen Krieges" von 1812 sowie ein Rotarmist verteidigungsbereit gen Westen.

Kriege waren über Rußland gekommen wie der Stundenschlag der Jahrhunderte. Unterwerfung unter die Khane, Besetzung durch Polen und Schweden und blutige Aufstände gegen die Hauptstadt im Land selbst machten die frühe Geschichte Rußlands zu einer Chronik von Schlachten. Verteidigungskriege, Eroberungskriege - es ging um den Zusammenhalt des Landes oder die Erweiterung seiner Macht- und Einflußsphären.
Das Ansehen des Imperiums und der Ruhm der Herrschenden waren nach offizieller Lesart russischer Geschichte daran zu messen, wie das Land an Umfang wuchs und seine Grenzen verteidigte. Die Regierenden - ob Zar, Generalsekretär oder Präsident - sahen im Volk in dieser Angelegenheit stets nur ein Instrument der Herrschenden. Und nie wurde diese Opferrolle konsequenter gerechtfertigt als in der Verteidigung der Sowjetunion gegen den Überfall Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Opferbereitschaft des Volkes, Heldenmut der Soldaten und der Ruhm des Schlachtherrn schienen alle Höhepunkte russischer Geschichte zu vereinigen. So ist es auch kein Zufall, daß nun auch Präsident Putin seit seinem offiziellen Amtsamtritt am 9. Mai (!) 2000 den Jahrestag des Kriegsendes mit waffenklirrenden Paraden in Erinnerung zu rufen versucht. Das "Volk" soll sich brüsten können mit den Siegen von damals, und ein wenig von des Ruhmes Glanz sollte auch auf die Feldherren der Gegenwart mit ihrem schmutzigen Krieg im Kaukasus fallen.
Aber "das Volk" erwies sich als zu klug, um sich mit solchen Höhepunkten locken zu lassen. Gut eine Millionen "echte" Weltkriegsveteranen - also solche, die unmittelbar in das militärische Geschehen an der Front involviert waren - leben noch. Für sie gibt es zwar eine Reihe materieller Vergünstigungen, wie etwa billigere Fahrkarten für öffentliche Verkehrmittel, kostenlosen Eintritt in Museen oder Prozente beim Kauf von Kleidung. Trotzdem lebt der größte Teil von ihnen heute schlichtweg in Armut. Die karge russische Staatsrente reicht kaum für das Lebensnotwendigste, geschweige denn für teure Medikamente im Krankheitsfall. Allen Kriegsdenkmalen zum Trotz stoßen westliche Beobachter im postkommunistischen Rußland deshalb nur selten auf eine den Krieg verherrlichende, heroische Stimmungslage. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist für die meisten Menschen, insbesondere für die älteren, eher Anlaß zu stiller Trauer. Der 9. Mai, der "Tag des Sieges", geriet im postkommunistischen Rußland nie zur lauten nationalen Feier. Wie in einer Andacht gehen die Menschen zum Grabmal des Unbekannten Soldaten, um dort Blumen niederzulegen. Vor dem Bolschoi-Theater und im Gorki-Park treffen sich die Veteranen und wagen ein Tänzchen zur Musik einer Ziehharmonika. Die Freude am Überleben braucht keine Marschmusik. Ein kriegsbeseeltes Land ist Rußland nicht geworden.
So entstand auch das gigantische Denkmal für den Sieg im Zweiten Weltkrieg, dessen nach verbauten Betonmassen zu messende Architektur eher den Blick auf die Geschichte verstellt, als daß es sie verkörpert. In Gorbacevs Zeiten war noch nach einer weniger aufwendigen, aber stimmungsvollen Alternative gesucht worden. Rußlands erster demokratischer Präsident bestand auf einer Lösung, die wuchtig ist, ein Symbol des Triumphes, das der Erinnerung an den Sieg zu dienen hat.
Den hochfliegenden Plänen Jelzins hatte sich der angemessene Partner zugesellt. Cereteli ist energisch wie sein Auftraggeber, sein Lebensstil unterstreicht seinen Sinn für praktische Ökonomie, und er besticht als Mann genialen Formats wenigstens in Fragen der Organisation. Es wäre falsch, das Zusammenwirken des dynamischen Paares allein unter ästhetischen Kriterien bewerten zu wollen. Beide waren Männer mit Visionen und hatten genug Geschick und Entschlossenheit, ihre Vorstellungen auch durchzusetzen - mag die Triebkraft auch größer gewesen sein als der Kunstverstand.


Lars Karl / Juni 2002
E-Mail lars.karl@uni-tuebingen.de



Literaturverzeichnis:
Astrachanskij, W.: Memorial Pobedy na Poklonnoj Gore. Moskva 1996.
Bonwetsch, B.: Der "Große Vaterländische Krieg" und seine Geschichte. In: Geyer, D.: Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991, S.167-187.
Grossman, A.: Den Krieg gewonnen, den Frieden verloren? Rußland und der 50. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg. In: Untersuchungen des FKKS 8/1995.
Sager, D.: Betrogenes Rußland. Jelzins gescheiterte Demokratie. 2. Auflage. München 1998.
Stökl, G.: Russische Geschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5. Auflage. Stuttgart 1990.
Tumarkin, N: The living an the dead: the rise and fall of the cult of World War II in Russia. New York 1994




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