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Verbrecher oder Held?

Wer war eigentlich Johannes Bückler, genannt der Schinderhannes?

Von Peter Bayerlein*

An einem trüben, "neblicht nassen" Herbstag vor 200 Jahren endete das Leben von Johannes Bückler auf einer Anhöhe vor den Wällen von Mainz. Er starb nicht allein. Er war umgeben von einigen tausend Menschen, die Zeugen waren, als er am 21. November 1803 mittags kurz nach ein Uhr auf das eigens für ihn errichtete Blutgerüst geführt, auf einem Brett festgeschnallt und damit unter das Fallbeil der Guillotine geschoben wurde. Johannes Bückler war weder der erste Delinquent, der von der französischen Justiz in den gerade erst eroberten rheinischen Départements zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, noch war er in den nachfolgenden zehn Jahren der letzte. Aber Johannes Bückler, der als Schinderhannes bis heute unvergessen ist, war zweifellos der bekannteste.

Wer war eigentlich jener Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, von dem es bis heute so unterschiedliche Dar- und Vorstellungen gibt? Es scheint fast, als ob dies niemand so genau wüsste. Zu unterschiedlich sind die Beschreibungen, die über ihn existieren. Manchmal erscheint es gar, als ob sich hinter diesem Namen zwei verschiedene Personen verbergen, die zufällig etwa zur gleichen Zeit unter diesem Namen im Hunsrück aktiv waren. Oder anders ausgedrückt es ist, als ob es sich bei Johannes Bückler, dem Dieb, Gewaltverbrecher und Mörder, und bei Schinderhannes, dem ebenso sympathischen wie schelmischen Helden unzähliger Anekdoten, Balladen, Romane, Theaterstücke und Spielfilme, um zwei gänzlich verschiedene Personen handelte. Vom Ersteren ist meist in der Vergangenheitsform die Rede, der Letztere aber scheint quicklebendig zu sein und sich anscheinend hauptsächlich im Hunsrück herum zu treiben. Zumindest drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man heute durch den Hunsrück fährt oder Reiseprospekte dieser liebreizenden Gegend durchblättert: in fast jedem größeren Dorf stößt man auf eine Schinderhannes-Gastwirtschaft, in jeder Kleinstadt auf ein Schinderhannes-Hotel. Wohin man kommt, man kann Schinderhannes-Brot zusammen mit Schinderhannes-Spießbraten essen, dazu noch ein Glas Schinderhannes-Bier trinken, hinterher das ganze Mahl mit einem Gläschen aus der Schinderhannes-Brennerei nachspülen und dabei Schinderhannes-Tabak rauchen. Anschließend kann man, je nach Jahreszeit, entweder auf eine Schinderhannes-Loipe gehen, auf einem Schinderhannes-Rundweg wandern, einen Schinderhannes-Radweg befahren oder an einer Schinderhannes-Rallye teilnehmen. Am besten man bucht gleich Pauschalferien im Schinderhannes-Land.

Dass sich hinter diesem allgegenwärtigen Schelm der lustigen Streiche, der Reiche ärgerte um Arme zu erfreuen, möglicherweise vielleicht doch der historische Gewaltverbrecher Johannes Bückler verbirgt, erfährt man bestenfalls auf den zweiten Blick - dann z. B. wenn man die kleingedruckten Lebensdaten vergleicht, die unter den Namen der beiden so unterschiedlichen Gestalten stehen. Man mag es kaum glauben, aber vielleicht ist es gerade die Diskrepanz zwischen dem Hunsrücker Schinderhannes und dem historischen Johannes Bückler, die seit zweihundert Jahren die Menschen immer wieder anregt, sich mit diesem bunt schillernden Räuberhauptmann zu beschäftigen, der nicht nur eine Reihe relativ harmloser Diebstähle und Einbrüche beging, sondern auch viele brutale Raubüberfälle und einige Morde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde verschiedentlich versucht, den Schinderhannes zu einer Art Freiheitskämpfer gegen die französische Besatzungsmacht hoch zu stilisieren. Dies geschah zwar vornehmlich in Romanen, wo man es mit den Fakten nicht so genau nehmen muss, aber dieses Bild, das nach dem 1. Weltkrieg und der erneuten Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen alle Herzen entflammte, wurde bald auf den historischen Räuber Johannes Bückler übertragen. Dabei ist zwischen 1796 und 1803 keine Handlung oder Tat des Schinderhannes bekannt ist, die sich in irgend einer Form gegen die französische Besatzungsmacht gerichtet hätte. Im Gegenteil, wie alle anderen Räuber, machte auch er einen großen Bogen um Dörfer, wo er oder seine Kameraden französische Soldaten vermuteten (schon weil diese zu jener Zeit kurzen Prozess zu machen pflegten mit francs-tireurs, wie man damals Partisanen nannte, und mit Dörfern, in denen man solche wähnte). Die Räuber, auch der Schinderhannes, wollten Beute machen und nicht kämpfen. Trotzdem wurde das Bild selbst in der Schinderhannes-Biographie von Curt Elwenspoek aufgriffen, wenn auch in etwas abgeschwächter Form. Davon angeregt entstand das bekannte Theaterstück von Carl Zuckmayer, dessen munterer rheinischer Rebell deshalb nicht nur die Zeit des Rhein- und Ruhrkampfes, sondern auch des Klassenkampfes zwischen 1920 und 1923 widerspiegelt als die Not- und Kriegszeit zwischen 1800 und 1803 im Hunsrück. Dennoch ist das Bild des Schinderhannes bei den meisten Menschen heute stark geprägt von den romantisch-verklärenden Romanen, Bühnenstücken und Filmen jener Zeit. Damals schrieb sogar der große französische Dichter Apollinaire ein langes Gedicht über ihn

Dans la forêt avec sa bande
Schinderhannes s'est désarmé
Le brigand près de sa brigande
Hennit l'amour au joli mai …

und der Schinderhannes-Film von 1928 (Drehbuch Carl Zuckmayer), der im besetzten Rheinland natürlich verboten wurde und erst nach einer Reihe von Änderungen gezeigt werden durfte, sorgte einmal mehr für diplomatische Verstimmungen zwischen Paris und Berlin.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde auch am "rheinischen Helden" vieles abgeschwächt, und so verwundert nicht, dass der berühmte Hunsrück-Räuber auf manchen Zeichnungen inzwischen eher wie Curd Jürgens im monumentalen Schinderhannes-Film von 1958 aussieht, in dem Johannes Bückler zu einer eigenartigen Mischung von Till Eulenspiegel und Andreas Hofer mutierte. Erst mit diesem Film begann der rheinische Räuber den norddeutschen Seeräuber Klaus Störtebeker zu überflügeln (zu dessen Andenken auf Rügen heute immerhin aufwendige Störtebeker-Festspiele inszeniert werden) oder den Ruhm des berühmten Wildschützen Mathias Klostermayer zu übertreffen, den "bayerischen Hiasl", dessen Bande 1771 nur nach einem mehrstündigen Gefecht mit zwei Kompanien Soldaten überwältig werden konnte oder auch den berüchtigten Räuber Friedrich Schwahn, genannt "Sonnenwirtle", dem kein geringerer als Friedrich Schiller mit seiner bekannten Novelle "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" ein Denkmal setzte. Erst nach dem deftig fröhlichen, augenzwinkernden Schinderhannes alias Curd Jürgens konnte wohl der (ursprüngliche) Schinderhannes zum vertrauten "Freizeiträuber" für ganz Deutschland transformiert werden, mit dessen Namen sich Pfadfindergruppen schmücken und dessen Ende unter der Guillotine in einem "Schinderhannes-Spectaculum" bei "schmackhaftem Schinderhannesbuffet" nachgespielt werden kann. Es ist ein augenzwinkerndes Spiel mit dem Bösen, das - im Gegensatz zur Realität - natürlich jederzeit abgebrochen werden kann.

Trotzdem erscheint es falsch, einfach von einer Faszination des Bösen zu sprechen, auch wenn dies zum Teil sicherlich zutrifft, denn damals wie heute verfolgen die Menschen gespannt den Verlauf von Strafprozessen, werden heutzutage jeden Abend im Fernsehen Krimis gezeigt. Die meisten Räuber oder Verbrecher werden bald wieder vergessen, nur an relativ wenige Fälle erinnern sich die Menschen auch noch nach Jahrzehnten. Schon deshalb ist das anhaltende Interesse an Johannes Bückler auch nach zweihundert Jahren eigentlich schon erstaunlich. Aber der seltsame Mythos um den "Schinderhannes" war schon in den ersten Flugblättern und Zeitungsberichten spürbar, die vor Beginn des Strafprozesses in Mainz 1803 veröffentlicht wurden, wobei sich diese Schriften zumeist bemerkenswert wenig um die tatsächlichen Geschehnisse im - von Frankfurt oder Mainz aus betrachtet - abgelegenen Hunsrück bekümmerten. Der aufwendige Strafprozess, für den jeden Tag an Schaulustige eine begrenzte Anzahl von Eintrittskarten verkauft wurde, die vielen Angeklagten, die fast unüberschaubare Anzahl von Zeugen, die abschließende, spektakuläre Massenhinrichtung vor den Toren von Mainz steigerten noch die Faszination um den Hunsrück-Räuber, dem seitdem hartnäckig das Kommando über eine große Bande nachgesagt wird.

Zweifellos verdankt der Schinderhannes einen Teil seiner Berühmtheit auch seiner ausgeprägten Fähigkeit zur positiven Selbstdarstellung, wobei er sich anscheinend schon gekonnt in Szene zu setzen wusste, als er in Freiheit war. Auch die von ihm gewählte, oder besser gesagt, bevorzugte Selbstbezeichnung "Johannes durch den Wald", die er sich für die Unterschrift unter seine Erpresserbriefe zulegte, strahlt ein gewisses geheimnisvolles Flair aus. In Kontakt mit anderen war er, wie berichtet wird, sehr charmant und humorvoll. Vor allem besaß er dabei die Fähigkeit, sich seinem jeweiligen Gesprächspartner geschickt anzupassen - was nicht nur junge Frauen sehr anziehend fanden. Selbst während der Gerichtsverhandlung in Mainz noch wusste er die Menschen auf den Zuschauerbänken für sich einzunehmen. Er war, seit er über die dazu notwendigen Geldmittel verfügte, meist recht sorgfältig und sehr "adrett" nach der neuesten Mode gekleidet und hob sich schon dadurch deutlich von vielen seinen Kameraden und Komplizen ab, die ihn begleiteten. Bekannt ist auch, dass er sich auf dem Höhepunkt seiner Räuberlaufbahn mehrmals von Schneidern komplett neu ausstatten ließ. Dies musste um so mehr auffallen, als sich damals die meisten Menschen bestenfalls einmal im Jahr ein neues Kleidungsstück zulegen konnten.

Zum großen Erstaunen der meisten Amtspersonen, die mit ihm zu tun hatten, und des neugierigen städtischen Publikums, das ihn später während des Prozesses bestaunte, wirkte er, sobald sie mit ihm sprachen, überhaupt nicht linkisch oder "bäuerisch", sondern offen und gewandt. Während seiner Vernehmungen legte er meist großen Wert darauf, nicht als ein gewöhnlicher Räuber oder Dieb angesehen zu werden. Immer wieder betonte er, er habe nie Gewalt ausgeübt - ganz im Gegenteil, er habe immer versucht, das Schlimmste zu verhüten, wenn seine Kameraden Gewalt ausüben wollten. Ein paar Mal behauptete er sogar, er hätte armen Schluckern, die er und sein Kameraden überfielen, ihre Habe gelassen, falls sie feststellten, dass diese tatsächlich nicht viel besaßen. Auf solche Selbst-Aussagen gründet sich auch sein Ruhm vom "Robin Hood von der Nahe", auch wenn sich seine Erklärungen in den protokollierten "Gegendarstellungen" der Opfer sich nicht so freundlich widerspiegeln. Doch letztlich waren (und sind) es immer seine Ausführungen, die von den Chronisten und Anekdotenschreibern aufgegriffen wurden und seit zweihundert Jahren tradiert werden. Bei der Beschreibung seiner Taten, gab er sich meist große Mühe, sich als pfiffigen oder schlauen Burschen darzustellen. Ein oft zitiertes Beispiel, ist die Behauptung, sei er nach einem Einbruch in eine Gerberei in Meisenheim am nächsten Tag dorthin zurück gegangen und habe dem Gerber genau das selbe Leder wieder verkauft, das er diesem in der zuvor Nacht gestohlen hatte (eine Geschichte, die natürlich auch von Carl Zuckmayer aufgegriffen wurde, garniert mit dem Zusatz, dass der bestohlene Gerber natürlich ein unsympathischer Geizhals gewesen ist). Mit spürbarem Vergnügen erzählte Johannes Bückler auch, er habe während eines Raubüberfalls auf der Landstraße einem der eingeschüchterten Opfer sein Gewehr gegeben, damit er es halte, während er die übrigen Reisenden durchsuchte. Allerdings schränkte er den Mut, der durch dieses Handeln scheinbar zum Ausdruck kommt, selbst wieder ein, indem er dem Untersuchungsrichter augenzwinkernd erzählte, das Gewehr habe natürlich eine verborgene Sicherungseinrichtung besessen, die nur er zu bedienen wusste (Gewehrsicherungen waren um 1800 praktisch noch unbekannt und damit etwas höchst ungewöhnliches). Auch bei dieser Schilderung zeigt sich deutlich das Bestreben, für intelligent und clever gehalten zu werden. Mit noch größerem Vergnügen berichtete er dem Untersuchungsrichter über einen Vorfall während eines Raubüberfalls, der seiner Meinung nach, "mehr komisch als ernsthaft" war. Dabei hatte er eine größere Gruppe jüdischer Händler gezwungen, die Schuhe auszuziehen, um diese nach eventuell darin versteckten Wertgegenständen zu untersuchen. Anschließend warf er sie alle auf einen Haufen, um sich hinterher daran zu ergötzen, wie sich die armen Opfer um die besten Schuhe balgten. Schon kurz nach der Hinrichtung des Johannes Bückler, als der Schrecken der Raubüberfälle sich wieder legte, entstand im Hunsrück und seiner weiteren Umgebung auf diese Weise ein vornehmlich aus den eigenen Aussagen des Schinderhannes zusammengesetztes Bild vom sympathischen Schelm, der eigentlich halt doch ein "guter Kerl" war, der "Humor besaß, [und] ... echte Fröhlichkeit des Herzens".

An der Vorstellung vom Räuber, der die Reichen und Geizigen bestiehlt und dafür die Armen beschenkt, erfreuten sich zu allen Zeiten die Menschen. Dies kommt auch in mehreren Anekdoten über den Schinderhannes zum Ausdruck, in denen der Held der Geschichte so ausgemalt wurde, wie ihn das Volk sich so wünschte: forsch und unverfroren gegenüber der Obrigkeit in Gestalt der Gendarmen und freundlich und hilfsbereit gegenüber den einfachen Leuten, wenn auch vorzugsweise in Gestalt von jungen Mädchen. Geschichten vom "edlen Räuber", der die Armen beschenkte, tauchten zwar schon unmittelbar nach der Verhaftung des Schinderhannes auf und werden seitdem gerne wiederholt, ohne dass sich der Wahrheitsgehalt solcher Geschichten im geringsten belegen ließe. Wenn man die Sache einmal nüchtern betrachtet, dann hatten in Wahrheit die Räuber gar nicht soviel zu verschenken. Das Geld zerrann fast genau so schnell, wie es gestohlen und geraubt worden war. Die Beute zerfiel in vier, in acht oder in zwölf Teile, je nachdem, wie viele Räuber an dem Überfall teilnahmen, die Hehler gaben ihnen meist nur einen kleinen Teil von dem, was die Sachen eigentlich tatsächlich wert waren, die zahlreichen stillen Helfer wollten für ihre größere oder kleinere Hilfe jeweils ihren Anteil, die Wirte und die Fährleute ließen sich das Schweigen gut bezahlen (und auch damals soll es Beamte gegeben haben, deren Wegschauen nicht ganz umsonst war), der Branntwein war teuer, und die Mädchen, selbst wenn sie nicht käuflich waren, wollten entsprechend versorgt werden.

Spätestens dann, wenn man einmal all die zahlreichen Vergehen und Verbrechen des Schinderhannes durchgegangen ist, wird man - vielleicht mit Bedauern - feststellen, dass zwischen dem schalkhaften "Robin Hood des Hunsrücks" der volkstümlichen Anekdoten und dem realen Räuber Johannes Bückler ein fast unüberbrückbarer Gegensatz besteht. Während es dem Schinderhannes der Erzählungen vor allem um überraschende Effekte geht, unter denen Gendarmen und Geldgierige aller Art zu leiden haben, so ging es den Räubern bei ihren Überfällen in Wirklichkeit nur darum, möglichst schnell an das Geld oder andere Wertsachen ihrer Opfer zu gelangen. Um deren Widerstandswillen rasch zu brechen und um schnell an die Geldverstecke zu gelangen, zögerten sie meist keinen Augenblick, körperliche Gewalt einzusetzen. Dabei prügelten sie bei Raubüberfällen auf der Landstraße einfach mit Knüppeln oder einer Waffe auf die wehrlosen Opfer ein. Bei den nächtlichen Überfällen auf ein Wohnhaus dagegen, wenn die Räuber mehr Zeit hatten und weniger Zeugen zu befürchten waren, dann folterten sie die gefesselten Bewohner häufig, indem sie ihnen z. B. Kerzen unter die Fußsohlen hielten oder am ganzen Körper Haare absengten und so schwere Brandwunden zufügten. Mehrere der auf diese Weise gnadenlos Gequälten erlitten dabei letztlich so schwere Verletzungen, dass sie sich danach nie mehr richtig erholten und zeitlebens Krüppel blieben. Dies gilt auch für Überfälle, die unter der Führung des Schinderhannes durchgeführt wurden. Ob Johannes Bückler dabei weniger gewalttätig war als seine Komplizen, wie mehrere ihm wohlwollende Biographen behaupten, kann nicht so ohne weiteres bestätigt oder verneint werden. Nach seinen eigenen Aussagen - u. a. bereits am ersten Tag seiner Vernehmung am 19. Juni 1802 in Mainz - und den Berichten anderer war der Schinderhannes zumindest in bemerkenswert viele Schlägereien mit seinen eigenen Kameraden verwickelt, bei denen stets nicht nur reichlich Blut floss, sondern auch zahlreiche Freundschaften in die Brüche gingen.

In einigen wenigen frühen Flugblättern und Trivialromanen war nach der Verhaftung des Räuberhauptmanns u. a. behauptet worden, des Schinderhannes "Haß und seine Rache habe sich nur auf die Juden bestrekt". Diese im Grunde unbelegte Behauptung wurde nach dem 1. Weltkrieg in einem völlig anderen Kontext wieder aufgegriffen und setzte sich danach in vielen Köpfen fest. Doch auch hier besteht zwischen dem Schinderhannes-Mythos und der Wahrheit eine beträchtliche Differenz. Sobald man die Verbrechen des Johannes Bückler auflistet, zeigt sich schnell, dass er zwar tatsächlich eine Reihe reicher jüdischer Händler überfiel, die überwiegende Mehrzahl seiner Opfer aber waren ganz gewöhnliche Christen. Mit anderen Worten, der Schinderhannes kümmerte sich wenig um die Religion seiner Opfer, sondern interessierte sich vor allem dafür, ob ihre Geldkatze wohlgefüllt war oder nicht. Wie außerdem bekannt ist, "arbeitete" er - vom Beginn seiner Räuberlaufbahn bis zum bitteren Ende - immer wieder mit jüdischen Komplizen und mit jüdischen Hehlern zusammen. Überdies, und das ist bislang weitgehend übersehen worden, scheint er für kurze Zeit sogar einmal mit einem jüdischen Mädchen "unterwegs gewesen" zu sein. Während seiner Vernehmungen berichtete er einmal in einem anderem Zusammenhang, "er kenne viele Juden auf dem rechten Rheinufer". Wenn also die ihm unterstellte Judenfeindschaft gar so groß gewesen wäre, wie einige annehmen oder behaupten, dann hätte er diese zahlreichen Bekanntschaften doch sicherlich gemieden. An dieser Stelle nur nebenbei bemerkt: die Pfarrhäuser, die vordem ein sehr beliebtes Ziel von Räuberbanden gewesen sind, waren in der Französischen Republik, und dazu gehörte der Hunsrück bekanntlich um 1800, nach der vollständigen Enteignung der Kirche und der Vertreibung sehr vieler Priester für die Räuber ziemlich uninteressant geworden. Auf dem rechten Rheinufer dagegen wurden auch 1801/02 noch immer zahlreiche Pfarrhäuser überfallen, darunter war auch das Pfarrhaus in Münster bei Dieburg, das einige Komplizen bzw. Kameraden des Schinderhannes überfallen haben (er selbst will allerdings nicht daran beteiligt gewesen sein).

Mag es auch angenehmer sein, sich mit lustigen Anekdoten zu beschäftigen, die sich in bunter Folge um die Gestalt des Schinderhannes ranken, mit all den Episoden, die mehrheitlich davon handeln, wie der Schinderhannes die Obrigkeit oder allzu Geizige ärgerte, oder sonst harmlosen Schabernack trieb, ohne dass dabei Blut floss, so ist doch noch einmal festzuhalten, dass diese Anekdoten bestenfalls auf nicht nachprüfbaren Geschichten vom Hörensagen beruhen. Ein anderer Teil beruht auf Berichten, die von anderen Räubern auf den Schinderhannes übertragen wurden und ein nicht unbeträchtlicher Rest dürfte einfach gut erfunden worden sein. Aber um eben dies erkennen zu können, ist es letztlich immer unumgänglich, sich mit dem Leben und der Geschichte des historischen Johannes Bückler aus Miehlen im Hintertaunus auseinander zu setzen.


*
Der Historiker Dr. Peter Bayerlein ist Autor der Bücher "Schinderhannes-Chronik" und "Schinderhannes-Ortslexikon", die Mitte Juli 2003 im Verlag Ernst Probst erschienen sind.

Anschrift:
Verlag Ernst Probst
Im See 11
55246 Mainz-Kostheim

Telefon 06134/21152, Fax 06134/26665
E-Mail: verlagernstprobst@web.de


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