Zum Auftakt unserer "Reihe türkisches Kino" Anfang Januar sind wir auf die aktuelle türkisch-kurdische Produktion "Hejar - Großer Mann, kleine Liebe" eingegangen; und damit sind wir schon mitten in einem zentralen Thema. Wenn wir im Laufe dieses Jahres vom türkischen Kino erzählen, maßen wir uns nicht an, einen Überblick über das gesamte Filmschaffen geben zu können. Wir wollen vielmehr zu einer Entdeckungsreise einladen, was denn den türkischen Film so besonders und einzigartig macht. Da sind historische Gegebenheiten, wie zum Beispiel die Kurdenfrage, aber auch andere Aspekte, von Bedeutung, denn sie haben die Menschen in der Türkei geformt und damit auch die Ausdrucksweise ihrer Künstler geprägt.
Eine der schillerndsten und ambivalentesten Figuren ist Yilmaz Güney (1937 - 1984). Als Schauspieler war er ein Volksheld, als Filmemacher hat er einen unangefochtenen Kultstatus bis heute beibehalten. Jeder ambitionierte türkische Regisseur muss sich an ihm messen lassen und oft auch von ihm emanzipieren.
Die Anfänge des türkischen Kinos waren denen anderer Länder recht ähnlich. Zunächst wurden um 1900 die kurzen Filmchen der Kinopioniere, wie die der Brüder Lumiére und ihrer Epigonen gezeigt. Doch schnell machten sich findige türkische Produzenten auf, eigene Filme zu drehen. Das Geschäft war lukrativ. Doch da es meist von Geschäftsleuten, wie wohlhabenden Teppichhändlern, betrieben wurde, war der künstlerische Stellenwert mitunter fragwürdig. Parallel griff man auf ägyptische Produktionen zu. Ägypten hat als Filmland im arabischen Raum ähnliche Bedeutung, wie Hollywood für den Weltmarkt. Das belegt ein Charakteristikum des türkischen Films, das in dieser Form kein anderes Land aufzuweisen hat. So wie sich die Türkei sowohl über Europa als auch über Kleinasien erstreckt, kann sie künstlerisch sowohl aus den europäischen wie auch aus den arabischen Kulturen schöpfen.
Yilmaz Güneys Werk ist so individuell, dass es keiner dieser Traditionen zugeordnet werden kann. Er hat eine Filmästhetik entwickelt, mit der er den spezifischen Verhältnissen in der Türkei Rechnung trägt. Güney war kurdischer Abstammung, ist als Künstler aber wohl eher als "gesamt-türkisch" einzustufen. Als Schauspieler eroberte er die Herzen aller ethnischer Gruppen in der Türkei, und es war entweder nicht bekannt, dass er Kurde war, oder nicht von Bedeutung. Sein Publikum fühlte sich von ihm verstanden, da er selbst seine Schurken-Rollen mit einer herausragenden Menschlichkeit und oft mit einem latenten sozialen Gewissen spielte. Als Regisseur und Drehbuchautor hat er den gesamten türkischen Film reformiert und ihn zu erstmaliger internationaler Anerkennung geführt. Wir wollen an dieser Stelle keine Filmografie abliefern oder die abenteuerliche Lebensgeschichte Güneys nacherzählen. Lieber richten wir den Blick auf einige Leitmotive in seinem Filmschaffen, um sie später in Besprechungen neuerer Filme vergleichend hinzuziehen zu können.
In der heutigen Sprachgebung würde man seine Filme als Doku-Dramen bezeichnen, so authentisch und lebensnah sind sie. Güney nimmt die Stoffe für seine Drehbücher oft aus dem Leben seiner Familie und Bekannten. Dann verwebt er sie in seiner unnachahmlichen Art in die undurchsichtigen politisch-gesellschaftlichen Strukturen der Türkei der 70er und 80er Jahre. Er verstrickt seine Helden in feudalistisch anmutende Tendenzen wie die beinahe Leibeigenschaft von Frauen, die im Kontrast zu den immer noch gültigen Reformen Mustafa Kemals in den 30er Jahren stehen. Die Ziele der verschiedenen Militär-Regimes der Nachkriegszeit sind wieder andere. Und der Islam lässt sich mit gewissen politischen Strömungen nur schwer vereinbaren. Verhängnisvoll wird für Güneys Protagonisten zusätzlich ein vermeintlicher Ehrenkodex, der als Alibi für Unterdrückung und blinde Rachsucht herhalten muss.
"Yol - der Weg"
Sein berühmtester Film ist "Yol - der Weg", für den ihm 1982 die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes verliehen wurde. In "Yol" sind die zentralen Themen aus vorigen Filmen in aller Dichte zusammengefasst. Da er "Yol" im französischen Exil fertig stellte, brauchte er auf die türkische Zensur diesmal keine Rücksicht zu nehmen.
Fünf Häftlinge bekommen eine Woche Urlaub auf Ehrenwort und treten die lange Reise zu ihren Familien an. Der Film beginnt im Gefängnis und endet mit der Rückfahrt von Seyit Ali (Tarik Akan) ins Gefängnis. Diese Kreisbewegung ist insofern symbolisch, da es für Güneys Helden im Regelfall kein Entrinnen und keinen Ausweg gibt. Sie enden da, wo sie begonnen haben.
Noch augenfälliger ist die Gefängnisthematik, die sich konstant durch Güneys Werk zieht. Dieses Leitmotiv spiegelt sich auf mehreren Ebenen wider, die oft gleichzeitig auf die Hauptfiguren einwirken. In "Yol" haben wir die physische Umgebung der Haftanstalt, in der die Häftlinge der Kontrolle durch die Autoritäten unterworfen sind. Güney ist parteiisch und liebt seine Helden, aber seine Sichtweise ist durchaus nicht einseitig. Sie haben die Taten begangen, derer sie bezichtigt werden. Auf die Gründe für ihre Verbrechen geht er nur indirekt ein, aber er lässt dem Zuschauer Rückschlüsse zu, dass sie Gefangene der Not und Armut sind.
Auch während ihres Urlaubs sind sie der Unterdrückung durch das damalige Militärregime ausgesetzt. Selbst in "Freiheit" wird ihnen eben diese durch einen ständigen Ausnahmezustand aberkannt. Das ganze Land wird als großes Gefängnis dargestellt.
Ein weiteres Gefängnis sind familiäre Zwänge und Traditionen. Seyit Ali kommt nach Hause und soll die Schande rächen, die seine untreue Frau über die Familie gebracht hat. Er soll sie töten, um die Familienehre wieder herzustellen. Menschliche Erwägungen, wie seine lange Abwesenheit durch die Haft, oder der Umstand, dass er seine Frau liebt und ihr eigentlich schon vergeben hat, haben in diesem gesellschaftlichen Gefängnis keinen Platz. Er kehrt als Witwer in die Haft zurück.
Auch sein Mithäftling Mehmet Salih (Halil Ergün) erfährt zu Hause alles andere als einen herzlichen Empfang. Man verwehrt ihm den Zugang zu seiner Frau und seinen beiden Kindern. Als er vor Jahren an einem Raubüberfall beteiligt war, kam sein Schwager dabei ums Leben. Dessen Familie gibt ihm die Schuld am Tod des jungen Mannes. Mehmet ist aus Feigheit ohne den Schwager geflohen und hat sich aus seinem Schuldgefühl heraus ein inneres Gefängnis gebaut. Trotzdem hofft er auf die Vergebung seiner Frau. Der einzige glückliche Moment im ganzen Film ist die Flucht der beiden mit ihren zwei Kindern. Für einen kurzen Augenblick scheint es möglich, dass die Liebe doch noch siegt. Doch sein jüngerer Schwager stöbert die beiden auf und tötet sie.
Güney gibt dem Zuschauer keine moralische Wertung vor, vielmehr beschränkt er sich auf die reine Darstellung. Seine Protagonisten sind weder gut noch böse, aber sie töten und sterben, als hätten sie keine Wahl. Egal, ob sie sich für die Liebe oder den Hass entscheiden, sie sind immer die Verlierer. Das Bild, das Güney von der damaligen Türkei zeichnet, ist denkbar düster. Weder die Familienoberhäupter, der Staat noch die Religionsführer geben den Menschen die dringend benötigte Hoffnung oder irgendeinen verlässlichen Halt. Es sieht so aus, als wären viele von Güneys Zeitgenossen nicht fähig gewesen, sich alleine aus ihrer Lage zu befreien. Güneys Bedeutung mag heute noch Gültigkeit haben, weil er sich aus gelebter Solidarität zu den Unterdrückten und Armen zu ihrem Anwalt gemacht hat. Er hat unaussprechliches Leiden in eindrücklichen Bildern festgehalten, die keiner verbalen Sprache bedürfen, um die Herzen zu erreichen. Und damit hat er seinen Filmen zurückgegeben, was ihnen filmimmanent weitgehend fehlt: die Hoffnung. "Yol" bedeutet zwar der Weg, aber leider nicht der Ausweg. Offensichtlich hat Güney weder für sich noch für seine Türkei einen Ausweg gesehen. Selbst im Exil fand er keinen Frieden und krankte an Heimweh. So schonungslos seine Filme die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Umstände schildern, sind sie doch aus einer tiefen Verbundenheit Güneys zu seiner Heimat und deren Volkgruppen entstanden.
Helga Fitzner / Februar 2003
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Reihe Türkischer Film Kinematographische Kuriositäten
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