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Rezension

Lesen im Urlaub >>> Aner Shalev, "Dunkle Materie"





Die abendländische Kultur, insbesondere ihre höchste Entwicklungsstufe, die Romantik, betrachtet die Liebe in der Nachfolge Platons gerne als eine verbindende Kraft, wobei ihre Essenz in jener Verschmelzung zweier Seelen liege, die wir nur unzureichend und probeweise durch die körperliche Nähe erfahren. In dieser Idee sind sich antikes und christliches Erbe einig mit jenen Idealisten und Romantikern um Hölderlin, Hegel und Novalis. Indem wir uns verbinden, erkennen wir uns auf neue Weise, die Liebenden finden sich „selbst“ im Geliebten wieder. Nur aus diesem Geiste heraus war es Rainer Maria Rilke möglich, davon zu sprechen, dass um die Liebenden lauter Sicherheit sei, während sich die Geliebten in Gefahr befänden. Der Liebende verliert sich nicht, sondern gewinnt sich auf einer höheren Ebene wieder – eine Idee der Bindung, welche durchaus die für heutige Zeitgenossen so wichtigen Merkmale Attraktivität, sexuelle und kommunikative Kompatibilität, Wohlstand, Erfolg, gesellschaftliches Prestige beinhalten kann.

Doch diese romantische Idee galt als erledigt spätestens in Brechts, Döblins und Keuns Texten der Neuen Sachlichkeit, in den Romanen von John Dos Passos und William Faulkner oder im Kontext der französischen Surrealisten um Breton und Aragon. Und diese Vorstellungen der Liebe, die sich in jener Zeit der Moderne entwickelten, dienen uns bis heute als die verbindlichen Schablonen unserer Vorstellungen von Partnerschaft und Beziehung. In deren Zentren vibrieren indessen andere Sehnsüchte: Die lodernden Bilder einer unabhängigen Verbindlichkeit, die explosive Innigkeit auf Zeit verleiht und deren Billigkeit sich eben darin beweist, resistent gegenüber jener individuellen Auflösungstendenz zu sein, die gerade nach der ersten Verliebtheit mit Vehemenz ihr Recht beansprucht.

Der Schriftsteller Aner Shalev hat einen Roman mit dem Titel Dunkle Materie verfasst, der ein Zeugnis dieser antiromantischen Liebesvorstellung ist und wie eine Partitur unseres zeitgenössischen Bindungsverhaltens zu lesen ist. In Israel stand das Buch monatelang auf der Bestsellerliste, während in Deutschland zumeist negative Stimmen zu hören waren.

Aner Shalev teilt mit seiner berühmten Schwester, Zeruya Shalev, nicht nur das Interesse für Literatur. Auch in der Themenführung gleichen sich die beiden Geschwister, wenn auch nicht zu verheimlichen ist, dass der Mathematiker und Astrophysiker das Thema auf rationalere, aber keineswegs unpoetischere Weise bespielt.

Mit dem Begriff Dunkle Materie wird die unsichtbare Masse im Universum bezeichnet, die wie die Liebe eine noch nicht oder nie zu entschlüsselnde Größe darstellt. Fest steht, dass diese dunkle Kraft der Schwerkraft, die bindend wirkt, entgegen arbeitet. Sie treibt Galaxien und Gestirne auseinander und dies scheint Shalevs metaphorische Initialidee zu sein, die den Zusammenhang zum Phänomen der Liebe herstellt.

Die Liebe also ist eine dunkle Energie – das wussten schon die sogenannten schwarzen Romantiker wie etwa Edgar Allan Poe - die in ihrer spaltenden und abstoßenden Wirkung viel stärkere Macht offenbart als in ihrem anziehenden und bindenden Modus. In dem Roman Dunkle Materie kreisen die Liebenden wie Gestirne umeinander, sie stoßen sich ab und ziehen sich an. Indem sie sich abstoßen, ziehen sie sich an. Und indem sie sich anziehen, stoßen sie sich ab. Zunächst ist es wie eine Art Magnetismus: Eva zieht Adam an. Der Protagonist streift die joggende Eva mit seinem Auto. Für den Autor sind diese Namen übrigens nur ironische Verweise, um dem Leser zu bedeuten: Hier handelt es sich um eine idealtypische Geschichte der Liebe. Die dunkle Energie ist die Energie der Geschlechter.

Was Shalev von Poe unterscheidet ist dies: Während die Liebe Nähe und Vertrauen erzeugt, bereitet sie immer schon Betrug und Trennung vor. Dies ist ihre dunkle Dialektik, die sie unvermeidbar in sich trägt. Die Liebe ist die Identität aus Identischem und Nichtidentischem. Das Unvereinbare als das Erzeugende. Sie schafft etwas Neues, indem sie Altes zerstört. Genau an dieser Stelle begegnen wir der romantischen Idee einer disparaten Identität wieder: Nur steht am Ende ein jeweiliger Neuanfang, während die Alten die im Grunde gar nicht typisch platonischen Ansicht vertraten, die Beständigkeit der Liebe impliziere die Beständigkeit der Leiber und Personen. Das aber ist vermutlich nur eine christliche Kalamität, mit der wir uns vergeblich herumschlagen.

Aner Shalev hat einen intelligenten, elegant komponierten und sprachlich anspruchsvollen Roman geschrieben. Nur wenige Autoren können stilistisch und erzähltechnisch mit diesem literarisch gar nicht ambitionierten Naturwissenschaftler mithalten. Handlungsorte sind New York und Jerusalem. Die Geschichte beginnt an einem Straßengraben in Jerusalem. Adam, ein israelischer Diplomat, verheiratet und kinderlos, war auf Heimaturlaub und verletzt die joggende Eva. Später erwartet er diese Frau, mit der er bis dahin Briefkontakt führte, in einem heimlich gemieteten Hotelzimmer in Manhattan. Eva ist zwanzig Jahre jünger und schreibt ihre Doktorarbeit im Fach Physik. Sie quält sich mit der Wissenschaft und fragt sich, ob das Universum bis in alle Ewigkeit expandieren kann. Währenddessen quält sich Adam mit seinen Hoffnungen und Phantasien, die er selbst lächerlich findet und die ihm den Blick auf die Realität verstellen. Selbst wenn er sich noch so sehr dazu zwingt: Er sieht nur das, was er sehen will. Er glaubt tatsächlich, mit Eva einen Neuanfang beginnen und seine alte Impotenz überwinden zu können. Während Eva ein sprachlicher Mensch ist, der permanent um Worte und Erkenntnisse ringt und Menschen benötigt, um Antworten auf ihre Fragen zu finden, ist Adam ein Mensch, der es einfach nicht verstehen kann, warum gerade Antworten irgendetwas in seinem Leben verändern sollten. Gleichzeitig aber ahnt Adam, dass sich die allmähliche Erosion seiner Gefühle der andauernden Fliehkraft von Evas unruhiger und unabhängiger Persönlichkeit verdankt. Indem sich Adam und Eva in ihrer Liebe unterscheiden, zeigen sich auch die Unterschiede ihrer Identitäten: Die Liebe ist eine Erkenntnis bringende, eine informative Identität, die sich nur im dialektischen Prozess von Anziehung und Abstoßung vollziehen kann. So verfehlen sich die beiden Liebenden kontinuierlich. Und ihre Romantik schlägt wie die negative Dialektik in ihr Gegenteil um.

Adam, der keine Kinder zeugen kann, scheint zuletzt ebenso unfähig zur Liebe wie Eva, die sich nicht binden kann, ohne das Gefühl zu haben, jederzeit wieder gehen zu können. Dies aber ist es gerade nicht, was Adam sucht. Vielleicht also betrügen sich beide selbst auf unterschiedliche Weise: Adam, indem er die Realität nicht zur Kenntnis nimmt und in einer Scheinwelt lebt. Eva, weil sie nichts anderes als die schnöde Realität der Körper und der flirrenden Gespräche kennt. Während Adam zum Lügner wird, wartet auf Eva die Einsamkeit der Seele...


Jo Balle - red. 10. August 2011
ID 00000005319
Aner Shalev - "Dunkle Materie"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler und Eldad Stobezki
Roman
288 Seiten
Taschenbuch
ISBN 9783833305665
9,90 € [D] | 10,20 € [A]
Erschienen 2009



Siehe auch:
http://www.berlinverlage.com





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