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Rezension

Christa Wolf - "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"

Suhrkamp
ISBN 978-3-518-42050-8



Death Valley



"Wohin sind wir unterwegs? / Das weiß ich nicht."


- So endet STADT DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD von Christa Wolf.

Es ist ihr letztes Buch - es kursen so Gerüchte, dass sie keines weiter schreiben wolle; wer das glaubt, ist selber schuld. Zehn Jahre hatte sie hiermit zu tun; jetzt ist sie 81, so wie meine Mutter.

Als ich mir das Buch von Suhrkamp schicken ließ - und kurz nachdem ich ein paar erste Feuilletonbeiträge über es zu lesen kriegte - , wollte ich es, und in erster Linie, zur Lektüre nutzen, weil mein Freund vier Wochen in der Wüste (irgendwo in Texas/USA), wo er geboren wurde, ist, und weil ich ihm "auf diesem Wege" näher, als ich es zur Zeit tatsächlich bin - und weil ich halt dann hier in Deutschland, er aber halt in Amerika verweilt - , sein wollte... [Nach Amerika darf ich nicht mit, weil seine Leute dort nicht wissen dürfen, dass ich gay bin; komisch... In Wolf's Buch ist (auch) von einem Homosexuellen, der sich fast sein ganzes Leben lang nicht traute, "das" zu sagen, was er während seiner Zeit mit einer Frau, die er geliebt hatte, unheimlich oder heimlich auslebte, die Rede; ganz am Schluss kommt es für ihn zu einem freiwilligen und spontanen Coming Out, und ihm ist plötzlich wohler...]

STADT DER ENGEL meint Los Angeles.

Hier nutzte die Autorin eine auf neun Monate beschränkte Auszeit, um an einem neuen Buch, das sie dann über sich, über ihr Leben zwischen den Gesellschaftsordnungen und ihre Schreiberfahrungen verspielen ließ, zu werken resp. alle Materialien und Gedanken, die sie bis dahin für dieses neue Buch zusammentrug und ordnete, in Reih' und Glied zu bringen... 1992/93 war sie da, auf Einladung des Getty Centers, Stipendiatin; und sie zählte sich als älteste des exklusiven Eingeweihtenkreises, der sich aus 'nem guten Dutzend Intellektueller dies-und jenseits des Pazifik bildete und dessen eine oder andere Realfigur, freilich dann unter anderm Namen, in dem neuen Buch von ihr zur Sprache kommen sollte.

Um sich in die STADT DER ENGEL einfühlen zu können, muss der Leser wissen - und das kriegt er auch durch die Autorin Schritt um Schritt erzählt - , dass Christa Wolf eine für ihre Psyche wie auch Physis schwere, um nicht gar zu sagen lebensbedrohliche Situation durchstehen musste: Nicht allein dass sie der emotionalen Ballkraft, wie sie die schon legendär gewordene Massenkundgebung am 4. November 1989 (Berlin, Alexanderplatz) bewirkte - und es war zu dieser Zeit dann überhaupt nicht sicher, ob das Ganze friedlich, also ohne Blutvergießen, abliefe; obgleich das Generalmotto dieses so unvergesslich optimistisch wirkenden Demonstrationstages "KEINE GEWALT" zum Inhalt hatte - nicht gewachsen war; nach ihrer kurzen Rede musste sie mit Herzbeschwerden in die Charité gefahren werden - - drei Jahre danach wurde sie Zielscheibe einer in jeder Hinsicht beispiellosen Hetze, als "man" sie als IM Margarete, und von derem Fakt sie nichts mehr wusste oder nichts/nichts mehr gewusst zu haben glaubte, schonungslos enttarnte.

Christa Wolf schrieb also ein Erinnerungsbuch. Das machte sie, und mittels dieses Genres, schon ein paar Mal. KINDHEITSMUSTER und NACHDENKEN ÜBER CHRISTA T. (zwei ihrer besten Bücher) funktionieren so. Auch SOMMERSTÜCK hatte so ähnliche Gestaltungsmittel wie jetzt STADT DER ENGEL; und auch hier wird wieder (wie im SOMMERSTÜCK) auf eine Gruppe von Menschen zurückgegriffen, in deren wärmender Obhut sich die Autorin zu ihrer Schreibzeit befindet; Beziehungen und Konstellationen entstehen, die den allzu eindeutigen Ich-Blick der Erzählerin von einer Innenbeschau weg zu einer Außenansicht zu- bzw. hin und her bewegen - und das macht das Lesen "leicht" und bringt dem Leser einen Kosmos (der Autorin) nah, den er (und insbesondere wenn er, also wie sie, so ein geborner Ostmensch ist) zu teilen willig ist oder halt nicht.

Von wegen Kosmos:

Wolf vermittelt in der STADT DER ENGEL - und nicht nur durch ihre Englisch-Floskeln, die sie unbeholfen dann "aus ihrem Mund" zu ihrem jeweiligen Gegenüber (um zu demonstrieren, wie sie sich, trotz ihrer ganz und gar unangelsächsischen Verwurzelung, dennoch als unverhoffte Weltenbürgerin, US-Touristin, internationale Stipendiatin so zurechtfindt) kommunikationsträchtiger Weise ablässt - so was wie ein Fremd-bin-ich-ausgezogen-Mitgefühl bei Lesern "ihrer" alten Sozialität, sprich DDR-Genossenschaft / werde ich, als der Schreiber dieser Zeilen und/sowie als eingestandnes DDR-Gewächs, jetzt hoffentlich nicht missverstanden?!

Dieses (ihrem Leser vorgegaukelte und dennoch völlig unbeholfne Weltenbürgertum) betrachte ich dann schon als einen Trick von ihr; er lässt sie eine wohl nur ihr gemäße Haltung oder Grundhaltung zum nachgeraden "Rest der Welt", also zu einem Kosmos, der den DDR-Bürgern, die nicht (wie sie) per Privilegien-Pass die Grenzen dieser Welt nach rechts und links durchmauern konnten, vorenthalten blieb, Preis geben - - jetzt, fast zwanzig Jahre später, wären Zeiten und Gelegenheiten, das Versäumte nachzuholen... [Nicht das erste Mal bekomme ich von meinem Freund, in vorwurfsdeutlicher Manier, zu hören, warum ich denn nicht, nicht mal für ihn, mein Englisch bessern täte; und ich kann es ihm, bis heute nicht, mit keinem Wort vermitteln, warum ich mein Englisch (das, weil ich es antriebslos bisher nicht bessern tat, de facto überhaupt kein Englisch ist) nicht besserte, obwohl ich weiß, dass ohne Dieses, also ohne gutes Englisch, auch beruflich heutzutage nix, also so gut wie nix, dann geht.]




Das Wolf-Buch liest sich gut.


[Ich pfeffere, seit Jahren schon, ein Buch sofort beiseite, wenn ich es nicht lesen kann; entweder misshagt mir die Form, oder mir passt der Inhalt nicht.]

Im Falle STADT DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD stimmt Beides, Sprache u n d Geschichte. Kurzum: Die Sprache, die von Wolf sehr atmosphärisch und auch sehr präzise angewandt ist, lässt mich wohl in einem biografischen Befindlichkeitsatoll Station(en) machen; die Geschichte stimmt mich neugierig, was ihre Rückbezogenheit (= erzählte DDR), was ihre Aktualität (= erzählende Erzählerin), was ihre Perspektive (= "Wohin sind wir unterwegs? / Das weiß ich nicht.") betrifft.

Ihr stipendiales Anliegen erklärte die Erzählerin damit, dass sie in Sachen einer L. - am Schluss des Buchs entschlüsselt diese L. sich dann als eine Lilly, eine vor den Nazis nach Amerika geflüchtete jüdische Psychoanalytikerin, deren Briefe, die an ihre Freundin Emma (auch einer Freundin der Erzählerin) gerichtet waren, im Gepäck der Stipendiatin steckten - recherchierte; das also bedeutete ihr eigentliches Schreibmotiv. [Im Leben meines Freundes gibt es auch eine L.: seine Tante L.; ja und auch diese L., die ihres Zeichens Linguistin/Theologin war, war Jüdin, doch sie emigrierte nicht, so wie ihr Bruder und der Vater meines Freundes, 1939 nach Amerika, sondern verblieb bis "kurz vor Schluss" - Jahrzehnte später, so erzählte mir mein Freund, hatte sie immer noch diese Phobie, in allen Zimmern ihrer Schweizer Wohnung einen Eimer abgestellt haben zu müssen so wie "kurz vor Schluss", als sie so einen Eimer in der deutschen Wohnung stehen hatte, weil sie nicht das (deutsche) Treppenklo, was nur für Deutsche, aber nicht für Juden zur Verfügung stand, benutzen durfte.]

THE OVERCOAT OF DR. FREUD (das ist der etwas nebensträngigere und verschwindendere Teil des Buchtitels von Christa Wolf) - und die Erzählerin bekam tatsächlich von einem ihrer Mitstipendiaten einen antiquarischen Mantel, der angeblich der Mantel Sigmund Freuds gewesen sein sollte, geschenkt - "diente" der Wolf mehr oder weniger dazu darauf zu insistieren, dass sie sich, zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt, psychoanalysieren ließ - und die Erzählerin lässt Dieses dann durch einen sehr berufserfahrnen Koreaner tun; aber das nur am Rand bemerkt... Sie will auch, ziemlich eindeutig, dahinterkommen, warum ihr der Fakt des sogenannten IM Margarete jahre- und jahrzehntelang an der persönlichen Erinnerung vorbeigenebelt war; ihr wird von mehreren der in dem Buch agierenden Personen auch erklärt, dass man sich halt nicht Alles merken könnte, und vor Allem nicht so "Unwichtiges" (!)

Wolf bzw. die Erzählerin bewohnen also fast ein Jahr lang dieses annehmliche Appartement in der von Sonne so verwöhnten Stadt Los Angeles, konkret in Santa Monica... Dort in der Nähe spüren Beide (Wolf/Erzählerin) auch die Exilstätten von Brecht und Thomas Mann und Feuchtwanger und Einstein usw. auf; es fällt das Wort vom "Weimar unter Palmen"... Auch legte man schnell mal tausend Dollar für ein unikates Zeitungsstück (Exilverlag Querido, Amsterdam), das Beiden durch 'nen jüdischen Buchantiquar geboten wurde, auf den Tisch; auf Spurensuche und in Sammlerleidenschaft...

Allabendlich guckt die Erzählerin im Fernsehen, auf Englisch freilich, STAR TREK an und freut sich über alle märchenhaften Lösungen und Ausgänge. Und regelmäßig telefoniert sie mit Berlin; das könnte ein Verweis auf Gerhard Wolf gewesen sein; auch lässt sie sich (nicht nur von ihm) die News aus Deutschland faxen - die Belege der von ihr durchlittnen Hetzkampagne (IM Margarete) sind für alle Angestellten, Stipendiaten sodurch einsehbar ... Und Wolf/Erzählerin müssen bzw. wollen sich vor Allen rechtfertigen; und man geht schön essen und besichtigt Sonnenuntergänge, und man fühlt sich so wie Thomas Mann, den Wolf/Erzählerin weitschweifig herzitieren...

Letztlich - und nachdem wir Vieles, und auch vieles Neues von und über Christa Wolf erfahren haben - wird ihre Erzählerin (touristisch) noch ein Stückchen rumgereicht und rumgefahren: in den äußersten Südwesten von Amerika.

Da gibt es dieses Death Valley (im Death-Valley-Nationalpark). Nicht sehr weit entfernt hiervon machte die Gruppe dann noch in Las Vegas kurz Station.

Wolf hatte sich inzwischen auch mit einer Schutzengelin eingelassen oder ausstaffiert; mit dieser Schutzengelin (= Angelina) geht es dann, im Flugzeug, wiederum zurück... Sie (Wolf, Schutzengelin) sagen am Schluss des Buchs jene zwei Sätze hier:

"Wohin sind wir unterwegs?
Das weiß ich nicht."


Es wird nicht klar, wer von den Beiden welchen der zwei Sätze spricht.

[Gestern simste mein Freund mir, dass es in der Wüste regnen würde, was sehr selten ist, ja und er liebe den Geruch der nassen Wüste, und deswegen - wegen des so seltenen Geruches - wäre er so gern bei sich, in seiner Wüste....]


Andre Sokolowski - 25. Juli 2010
ID 00000004729
Christa Wolf, "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud "
Erschienen: 21.06.2010
Gebunden, 416 Seiten
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42050-8
D: 24,80 € / A: 25,50 € / CH: 42,50 sFr


Siehe auch:
http://www.suhrkamp.de


Post an den Autor: mail@andre-sokolowski.de



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