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Giya Kanchelis Symphonien 4-7



(Tbilisi Symphony Orchestra unter Djansug Kakhidze)

Unter der Zeit-Lupe des Volkslieds

Im Westen ist der 1935 in Georgien geborene Komponist Giya Kancheli bislang leider weitgehend unbekannt geblieben. Als einer der wenigen hat sich der Dirigent Kurt Masur um seine Verbreitung bemüht. Kollegen wie der verstorbene Alfred Schnittke schätzten ihn als ernsthaften und eigenständigen Komponisten. Wenn man hierzulande überhaupt auf seinen Namen stößt, so zumeist in einem Atemzug mit populären slawischen Komponisten wie Arvo Pärt oder Henryk Gorecki. Aber von ihnen unterscheidet Kancheli sich grundlegend: Er hat nicht wie sie in der Auseinandersetzung mit der westeuropäischen Moderne einen Stilwandel von der Komplexität hin zu einer "neuen Einfachheit" vollzogen. Kanchelis Ausgangspunkt war immer schon die Tradition des schlichten georgischen Volkslieds, das ihm als Wertemaßstab, quasi als Vergrößerungsglas dient, mit dem er musikalische Sedimente unter die "Zeit-Lupe" nimmt: Kanchelis Musik erscheint als ein wüstes Ödland, auf dem verschiedene Epochen und Stile ihre Spuren hinterlassen haben, das sich die Natur zurückerobert und in ihresgleichen zurückverwandelt hat. Wie auf den Gemälden Anselm Kiefers Sand und Staub menschliche Bauwerke überlagern, so verwittert hier die musikalische Struktur in fossilen Schichten unter dem Ein-Druck des Klangs. In durchaus eklektischen An-Klängen gewinnt Kancheli einen völlig eigenartigen Stil des Fragmentarischen und der Stille, des Bruchs.
Wichtig für Kanchelis Entwicklung war die Arbeit als Theater- und Filmkomponist, so etwa in der Zusammenarbeit mit dem georgischen Filmregisseur Robert Sturua: Kanchelis Symphonien erschließen sich dem Zuhörer in ihrer assoziativen Entwicklung und kontrastiven Dramaturgie vor einem erzählerischen Hintergrund. Filmische Techniken wie Schnitt, Montage und vor allem Zeitlupe haben sich in Kanchelis Kompositionsweise niedergeschlagen. Ihre Dramaturgie setzt bewusst die traditionelle Form der Symphonie außer Kraft und arbeitet stattdessen mit Episoden, die gegensätzliche Figuren in wechselnden Beziehungen zeigen, so dass die einsätzigen Werke eher den Charakter von Symphonischen Dichtungen annehmen.

Vier dieser Symphonien liegen nun bei dem Label "Beaux" (Bridging Ethnic And Urban X-Roads) vor und dokumentieren Kanchelis hohen Stellenwert im zeitgenössischen russischen Musikleben: Das umfangreiche Booklet nimmt sich mit besonderer Sorgfalt und Engagement des Komponisten an, zahlreiche Zitate aus russischen musikwissenschaftlichen Arbeiten und theoretischen Reflexionen seiner Kollegen belegen Kanchelis Bedeutung für die G.U.-Staaten.
Die 4. Symphonie von 1975, "In memoriam Michelangelo", setzt sich mit grellem Aufschrei und donnerndem Glockenläuten in Szene, ein Sturmläuten, das schließlich in die absolute Stille führt, in die wieder Erschütterungen einbrechen und dann wieder Stille. Man mag an Ligeti denken, aber auch diese Spur ist nur flüchtig und deutet ins Nichts. Hinter allen Türen, die sich in dieser Musik so besonders filmdramatisch öffnen oder verschließen, ist nichts und nie gewesen. Aber diesem Vakuum gibt Kancheli einen berstenden Klang.
Deutlich wird dies auch in der 5. Symphonie (1977): Gleich zu Beginn stockt das Orchester zu einem verschwommen weiterfließenden Akkord, das Cembalo stelzt mit kalten Tönen durch den wabernden Tonsumpf, jäh durchstechen schrille Gesten den düsteren Nebel und reißen alles in eine lauernde Stille: Mussorgskis "Gnomus" lässt grüßen.
Der Einfluss georgischer Volksmusik zeigt sich besonders in der 6. Symphonie, die Masur 1981 zum 200. Geburtstag des Leipziger Gewandhausorchesters in Auftrag gegeben hat. Die beiden Seiten in Kanchelis Musik treten schroff gegeneinander: Fein abgestimmt und zart segmentiert baut sich eine Linie auf, kommt kaum auf die Beine, reißt immer wieder ab, leises Atmen wird in der Stille hörbar - dann zerreißt alles mit einem gewaltigen Donner.
Kanchelis 7. Symphonie gilt als sein bislang anspruchsvollstes Werk: Zitate aus Beethovens 9., russische Chorgesänge, Big Band-Sound und Bach-Sequenzen lassen über den Zuhörer eine überwältigende Klangflut niederstürzen, um ihn dann wieder in ein absolutes, erdnahes Vakuum zu katapultieren.

Kanchelis Werke entstanden alle in enger künstlerischer Zusammenarbeit mit dem georgischen Dirigenten Djansug Kakhidze, der alle Werke aufgeführt und auch für diese Aufnahme dirigiert hat. Kakhidzes Zugriff lässt den Musikern viel Freiheit in der Gestaltung dieser fragmenthaften Musik und zeigt doch eine zielsichere Führung. Die Aufnahme macht sich nicht nur um einen hierzulande leider wenig bekannten Komponisten verdient, sondern bietet neben einer authentischen und musikalisch beispielhaften Interpretation ein ausbalanciertes Klangbild.

a.s. / 15. Januar 2002
Facts:

Giya Kancheli: Symphonies No. 4 & 5.
Tbilisi Symphony Orchestra (Djansug Kakhidze). Beaux (Bridging Ethnic And Urban X-Roads) 2025. Distributed by Mazur Media GmbH Germany.

Giya Kancheli: Symphonies No. 6 & 7 "Epilogue".
Tbilisi Symphony Orchestra (Djansug Kakhidze). Beaux (Bridging Ethnic And Urban X-Roads) 2026. Distributed by Mazur Media GmbH Germany.

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© 2002 Kultura (alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar.)
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