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Label-Portrait:


Die Musik schleicht sich ins Bewusstsein

Was Musik zu leisten vermag, ist beachtlich. Sie kann Emotionen wecken, Kraft geben, Hass steigern, sie kann beruhigen, entspannen, regenerieren helfen. Sie kann nerven, wie sie sich auch der Aufmerksamkeit entziehen kann. Selbstverständlich kann Musik auch verwirren. Und ein und dieselbe Musik kann all dies zugleich mit unterschiedlichen Menschen anstellen, vielleicht auch mit ein und demselben Menschen.

Klangstabil: Maurizio Blanco(links) und Boris May
© Foto: Frank Bayh 2001

In wieweit die Musik von Klangstabil diese möglichen Wirkungen erzielt, vermag ich nicht gänzlich einzuschätzen, sicher bin ich mir aber, dass sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers ungeniert einfordert. Denn legt man ihre Musik auf, so ist sie ganz einfach da. Sie steht im Raum, sie duldet nichts anderes neben sich. Es fällt schwer ihren Musikstil zu charakterisieren, denn zum einen ist er vielfältig, zum anderen nicht direkt eingängig. Sicher lässt sich sagen, dass Klangstabil elektronische Musik schaffen, die den Gehörgewohnheiten entgegensteht, die "in die Fresse haut" oder aber auch einfach verspielt daherkommt. Keinesfalls lässt sich zu irgendeinem Zeitpunkt eines Stückes sagen, wie es weitergeht. Ihre Musik regt zum Denken an, ein Punkt, der Klangstabil sehr wichtig ist. Denn sie spielen "gegen die Angst, dass die Kreativität verloren geht in der Welt". Ihre Unvorhersehbarkeit "kämpft gegen die Verdummung", möchte Aufmerksamkeit schaffen, dass man "kritisch mit den Medien umgeht, dass man reflektiert, was man da die ganze Zeit durch das Fernsehen angeboten bekommt". So äußerte sich Boris May in unserem Interview, dass wir an einem Herbstnachmittag auf Schloss Hohentübingen gehalten hatten. Zusammen mit Maurizio Blanco bildet Boris May Klangstabil, ein Projekt, das 1994 im Raum Reutlingen/Tübingen gegründet wurde.

Maurizio Blanco
© Foto: Frank Bayh 2001

Digital ist auch nicht schlecht

Zu Beginn ihres Wirkens ergründeten die Beiden die Klangwelten ihrer zahlreichen analogen Synthesizer und Musikmaschinen, ließen immer ein Dat mitlaufen und veröffentlichten diese Livekompositionen, sofern sie ihnen gefielen. Der anfängliche Verzicht auf computergesteuerte Sequenzer, die ein sukzessives Komponieren der Stücke durch das Speichern und anschließende Übereinanderlegen einzelner Tonspuren erlauben, ist aufgehoben. "Mittlerweile kann es alles sein", zumal die letzten Platten weniger in direkter Teamarbeit entstanden sind. Jeder komponiert für sich, "dann wird das alles irgendwie zusammengemischt und am Schluss ergibt das immer Klangstabil". So sind die letzten Alben auch hauptsächlich Konzeptalben gewesen, deren Struktur in erster Linie von einer Person vorgegeben wurde. Auch ihr neuestes Album Kantorka ist die Verwirklichung einer Ideenvorgabe. Dabei sollte die Stimmung, die der Trickfilm Krabat bei den beiden seit ihren Kindertagen hinterlassen hatte, musikalisch umgesetzt werden. Das Ergebnis ist ein ruhiges, dichtes, wirklich schönes Album, das ganz im Gegensatz etwa zu ihrer Platte Straftat gegen das Leben steht. Nicht dass diese nicht schön ist, ruhig ist sie aber ganz sicher nicht.

Ein Label weitab der Hörfrequenz

Obschon Kantorka auf dem Label Pflichtkauf erschienen ist, veröffentlichen Klangstabil zumeist auf ihrem eigenen Label MHz, das sie 1995 gegründet haben. Dieses Fremdgehen bezüglich der Veröffentlichung sei Teil "eines Geben und Nehmens" mit ihren Freunden bei anderen Labeln. So sind auch alle Artisten, die auf MHz veröffentlichen, Freunde, bzw. "wenn noch nicht Freunde, dann müssen sie zuerst Freunde werden". 40 - 50 Künstler haben mittlerweile mindestens ein Stück auf MHz veröffentlicht. Es hat sich also ein beachtliches Netzwerk entwickelt. Neben den meist unbekannten Musikern, deren Releases bei MHz ihren ersten Gang an die Öffentlichkeit darstellen, findet sich mit Conrad Schnitzler auch eine lebende Legende der elektronischen Musik auf ihrem Label. Das ehemalige Mitglied von Tangerine Dream zollt der Arbeit von Blanco und May dadurch einen gewissen Respekt, der den beiden ungemein wichtig ist. Denn obschon Klangstabil/MHz dem breiten Publikum gegenüber alles andere als gefallsüchtig sind, so möchten sie bei Gleichgesinnten oder Vorbildern Anerkennung finden. Für dieses Ziel werden sie sich aber nicht verbiegen, dafür ist ihnen ihre Musik zu wichtig. Eine Einstellung, die sie auch von den anderen Künstlern auf MHz erwarten. Boris May formuliert sein Anliegen und das von MHz so: "Ich denke, wir haben das Glück, dass wir vieles Neues anbieten, was vielen Leuten nicht gefällt, aber dass wir mit Leuten zusammenarbeiten, denen die Musik am Herzen liegt. Und das ist das Allerallerwichtigste, dass die keinen Schrott machen. Es gefällt uns, die Entwicklung von den Künstlern zu verfolgen und es ist ganz wichtig, dass die Leute bei der Musik bleiben, dass sie nicht irgendwann sagen, ja, ich mach jetzt Musik und bring jetzt was raus und hab dann keinen Bock mehr, sondern dass man irgendwann mal sieht, der lebt mit der Musik, das ist nicht nur so eine Phase gewesen und da entwickelt sich auch etwas, mit dem wir die Musik vorantreiben. Und das kann man nur machen, wenn man ein bestimmtes Stadium durchlebt hat. Die Veröffentlichung ist dann mein Ding, das ist mein Name, der da draufsteht, das ist meine Musik und daran erkennt man mich auch."

GAMMA: Vom Aussterben bedroht. Das mittlere Geschöpf zählt nur hundert seiner Art. © Foto: Frank Bayh 2001 (siehe auch: www.bayh.de)

Die Veröffentlichung als Gesamtkunstwerk

Dass man die MHz-Künstler an ihren Platten erkennt, liegt nicht allein an der Musik. Auch die Gestaltung der Plattencover steht der enthaltenen Musik in nichts nach. Um den aufwendigen Kreationen gerecht zu werden, muss man sie wohl als liebevoll charakterisieren. So wurde beispielsweise für die Kantorka-Hülle ein Original des Krabat-Illustrators verwendet. Der Sohn des mittlerweile verstorbenen Künstlers H. Holzing stellte ein Bild zur Verfügung, Otfried Preussler als Buchautor gab sein Einverständnis und die resultierende Platte hat diese sicherlich nicht primär zur Zielgruppe gehörenden Personen alles andere als enttäuscht. Auch die in Kassettenform erscheinende MHz-Compilationsserie ist ein kleines Gesamtkunstwerk. In diesem auf sechs Jahre angelegten Projekt veröffentlichen Blanco und May alle vier Monate eine neue Zusammenstellung der Musik von sechs MHz-Künstlern. Dem griechischen Alphabet folgend sind wir mittlerweile bei Theta angelangt. Auch hier ist neben der Musik vor allem eins beachtlich. Das Artwork. Denn jede Compilation erscheint in einer anderen Verpackung. So ist die aktuelle Theta-Kassette aus rotem Material und in einen Blutplasmabeutel eingeschweißt. Die Zeta-Version besitzt einen spiegelverkehrten Aufdruck, der sich aber dank eines mitgelieferten Spiegels inklusive aufgezeichneter Kassettenaufstellpassform lesen lässt. Den unbestrittenen bisherigen Höhepunkt stellt allerdings die Gamma-Verpackung dar. In einen Plexiglasquader eingelassen lässt sich die Kassette dank eines schwenkbaren Deckels nicht nur als Raumschmuck verwenden, sondern auch anhören. Der hohe manuelle Fertigungsaufwand zeigt dann auch den Rahmen für die Auflage an. Es werden nur 100 Stück veröffentlicht. Auch die anderen Platten sind streng limitiert. Die damit verbundene Exklusivität spielt bei der Auflagenlimitierung eine gewisse Rolle. Sollte aber jemand Interesse an bereits vergriffener MHz-Musik haben, so kann er sie sich entweder als MP3-File im Internet besorgen, eine Methode, die Klangstabil ausdrücklich unterstützen, oder "auch von mir auf CD haben, so ist es auch wieder nicht", wie Maurizio Blanco sagt. Schließlich geht es in erster Linie um die Musik.

THETA: Musik für lebensbedrohliche Schwächeperioden
© Foto: Frank Bayh 2001 (siehe auch: www.bayh.de)

Die Erschließung des Internets

Das soll die anderen Aspekte von MHz aber nicht unterbewerten. Gerade wenn man sich den Internetauftritt von Klangstabil/MHz anschaut, ist man schon wieder beeindruckt. Neben ausführlichen Informationen über die einzelnen MHz-Künstler und ihre Platten finden sich auf ihren Internet-Seiten alle veröffentlichten wie auch zahlreiche unveröffentlichte Stücke als kurze Realaudio-Files zum Anhören. Um einen Eindruck über die hier präsentierte Musik zu erhalten, sollten Sie unbedingt den Links www.megahertz.org und www.klangstabil.de folgen. Auf den MHz-Seiten finden sich zudem die kongenialen fotografischen Dokumentationen der MHz-Compilationsserie von Frank Bayh, die er uns freundlicherweise als bildliche Untermalung für diesen Text zur Verfügung gestellt hat. Ferner werden Bilder und Videos von Liveauftritten präsentiert, so beispielsweise von Klangstabils Konzert in Amsterdam, bei dem sie ganz im Gegensatz zu dem sonst üblichen immensen technischen Aufwand nur jeweils ein durchaus tragbares Gerät mit sich führten: einen Gameboy! Dank eines zufällig entdeckten Zusatzlevels hatten die beiden festgestellt, dass ein Synthesizer in diesem Gameboy implementiert ist, der für Eigenkompositionen nutzbar gemacht werden kann. Diese u.a. auf der CD Gioco Bambino veröffentlichten Stücke wurden dann in Amsterdam vorgetragen und standen dank ihrer verspielt schönen Melodienfolge im Gegensatz zu ihren sonst durchaus üblichen brachialen Auftritten, in denen sie sich und dem Publikum kurz und prägnant alles sowohl an physischem wie auch kulturell bedingtem Hörvermögen abverlangen. So steht es jedenfalls geschrieben. Diese Auftritte sind durchaus als klassische Provokation zu verstehen und damit Teil des Klangstabil Konzepts. Denn durch Verstörung soll das Denken angeregt werden. In diesen Rahmen darf man dann wohl auch so in etwa den geplanten Hardcoreporno einordnen, der mit Blanco in der Hauptrolle von May gefilmt werden soll. Zugegebenermaßen eine etwas eigenwillige Performance, die aber nicht das einzige Zukunftsprojekt darstellt.

Ein Blick nach vorne

"Was Elektronik betrifft kann nicht mehr viel kommen. Nur noch die Verschmelzung schon bestehender Musikrichtungen. Da muss schon irgendetwas Neues erfunden werden, wie die Elektrizität, damit das irgendwann einmal wieder neue Musik wird", so Maurizio Blanco. Bleiben also nur die schon existierenden Instrumente. Aber auch mit diesen haben die beiden viel vor. Zum einen die bereits angesprochenen Compilations, die alle vier Monate für weitere vier Jahre erscheinen werden. Die nächsten vier Kassetten sind schon geplant, "dann ist wieder alles offen". Auf MHz ist die Veröffentlichung des Hiphop-Projekts Comfort.Fit in Planung (www.megahertz.org/comfort_fit), wie auch weitere Konzeptalben von Klangstabil. Für Kopfmusik sind einzelne Stücke und das Cover bereits fertig, so dass die Platte Anfang 2002 erscheinen soll. Ebenfalls vielversprechend klingt ein angekündigtes Hörspiel, sowie ein Klangstabil Remixalbum von MHz-Künstlern. Und nicht zuletzt sind auch weitere Liveauftritte geplant, so auf dem Maschinenfest 2002 in Aachen und während einer Skandinavientour, die auch auf England und Schottland ausgedehnt werden soll. Da stellt sich natürlich noch die letzte Frage, ob die Aufmerksamkeit gegenüber Klangstabil/MHz regional, national oder international am größten ist. "International auf alle Fälle", wie Blanco sagt. Dass der Prophet vor der eigenen Haustür nur wenige Zuhörer findet, ist zwar keine allzu neue, aber eine meist wahre Weisheit.

Holger Apitz / 30. Oktober 2001

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