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Premierenkritik

Geklonte Mammuts

im Schnee

JOHN GABRIEL BORKMAN nach Henrik Ibsen


Bewertung:    



Gerade eben erst beim Theatertreffen in Berlin - nun bei den Wiener Festwochen: Das alte Bankerdrama John Gabriel Borkman des Norwegers Henrik Ibsen mausert sich zum Hit der laufenden Theatersaison. Aus der Gruft altbackener Übersetzungen befreit, massenkompatibel aufbereitet und mit Starschauspielern aufgepeppt, kommt es nun als ironisch frische Boulevardkomödie daher. Eine Milieu-Studie der verkommenen bürgerlichen Mittelschicht, die sich in Karin Henkels Hamburger Inszenierung, nach vergangenem Ruhm und dem Saft der Jugend gierend, lustvoll als Zombis auf einer Showtreppe im Betonbunker-Grab präsentierte.

Am Akademietheater Wien erheben sich nun die Untoten aus hügeligen Schneeverwehungen, die Karin Brack auf die Bühne gehäuft hat. Es schneit unablässig im Heim der Borkmans, die seit Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen haben. Doch unerwarteter Besuch klingelt an der Tür, und mit der Ruhe der „Mammuts“ im Permafrost-Zustand ist es alsbald vorbei. Die Metapher des alles, selbst die größte Schande überdeckenden Schnees verbindet Regisseur Simon Stone mit einer weiteren, wenn er den verlotterten Waldschrat Borkman (der vielgereiste Martin Wuttke mit zotteliger Langhaarperücke), der sich die Zeit vor einem alten Röhrenfernseher mit dem Sehen von Wissenschaftssendungen vertreibt, über geklonte Wollhaar-Mammuts sinnieren lässt. Deren DNA könnte man ja in einen Elefanten einpflanzen. Die Gesichter der anderen Tiere möchte er dann sehen. Und das Wiener Publikum sah.

Mit dem Elefanten ist hier natürlich Sohn Erhart gemeint, der nicht nur die Nachfolge von John Gabriel antreten und mit ihm zu neuer Größe aufsteigen soll. Es gilt den Ruf des nach der Veruntreuung von Anlegergeldern zu fünf Jahren Gefängnis verurteilten Bankdirektors gegen alle Verächter zu verteidigen und den beschmutzten Namen schließlich voll auf zu rehabilitieren. Ähnliches hat Mutter Gunhild (Birgit Minichmayr) vor, nur ohne ihren Mann, dessen Namen sie auf ewig aus dem Gedächtnis der Welt tilgen möchte, und dazu ebenfalls ihren Sohn braucht. Die Dritte im Bunde ist Gunhilds Zwillingsschwester Ella (Caroline Peters) und wegen eines „Scheißjobs“ verhökerte Ex-Geliebte Borkmans, die Erhart nach dem Banken-Skandal eine Zeitlang aufnahm und dann nach der Pleite das Haus, in dem die Borkmans wohnen, gekauft hat. Nun will sie Erhart adoptieren, damit der Name Rentheim nach ihrem Krebstod nicht ausstirbt. Und wieder grüßt das Mamma-Mammuttier.

So in etwa hält sich Regisseur Stone noch an Ibsens Plot, nur dass er den von Martin Thomas Pesl neu und alltagstauglich übersetzten Text "nach Ibsen" nennt und zudem mit jeder Menge lässlicher Modernismen überziehen ließ. Und das beginnt sofort mit der Ankunft Ellas, die sich von Gunhild eine gefühlte halbe Stunde lang die letzten 8 Jahre der Borkmans als eine Geschichte der guten alten 90er Jahre von Stefan Raabs "Maschendrahtzaun" bis zu Britney Spears' "Hit me baby one more time" anhören muss. Ein verkorkstes Hausfrauendaseins in der Totalisolation, das sich zunehmend ins Internet verlagert hat. Gunhilds Lieblingsbeschäftigungen neben dem Alkohol sind nämlich das Internetshoppen, Play Station spielen und Googeln des eigenen Namens, den das allbekannte Suchprogramm mit Ergänzungen wie Betrug, Gefängnis usw. belegt. Der Gag trägt eine Weile, wirkt dann aber zunehmend fad, wenn auch noch die Problematik, wie man alte Partyfotos aus dem Netz gelöscht bekommt, diskutiert wird. Man denkt da unweigerlich an bestimmte Polit-Promis. Allerdings befindet man sich hier doch eher in der Polit-Provinz, wo man es anstatt ins Parlament oder Präsidialamt höchsten noch bis zum Bürgermeister schafft.

Das alles wird in nöligen Dauerschreikrämpfen unter der großzügigen Verwendung möglichst vieler Fäkalinjurien abgespult, die besonders bei Birgit Minichmayr und Martin Wuttke nur eine Tonlage kennen. Die Ehegemeinschaft bürgerlichen Rechts, die es acht Jahre lang geschafft hat, sich aus dem Weg zu gehen, holt nun binnen eines Abends all die nichtgehaltenen Konversationen nach. Die bevorzugten Kosenamen für John Gabriel sind dabei u.a. "alter Stinkstiefel", "psychopatisches Arschloch" oder auch schon mal "verfickter Neandertaler". Borkman weiß sich da nur noch mit „Halt die Fresse!“ zu helfen. Eigentlich wollte er irgendwann mal wieder ganz groß rauskommen, derweil tut es aber auch einfach etwas mehr Senf auf dem Sandwich, das ihm der getreue Trottel Foldal täglich vorbeibringt. Roland Koch spielt ihn als gleichmütigen Schluffi, der, wie Borkman, alten Träumen und Idealen nachhängt, sich aber ansonsten seinen Möglichkeiten entsprechend eingerichtet hat.

Der Ruf des „alten Sexsacks“ Borkman nach mehr Eiern angesichts seines Sohnes Erhart (Max Rothbart), der auch bei Stone eigentlich nicht weiß, was er wirklich will außer sein eigenes Leben zu leben, wird zielsicher mit Fannys Rezepten auf Facebook getoppt. Da hat zumindest Tante Ella kein Profil und somit das Nachsehen. Die Entscheidung zwischen Backpacken in Mexico mit Fanny Wilton (Nicola Kirsch) und der coolen E-Gitarrenbraut Frida (Liliane Amuat) oder Abkacken mit den Wollhaar-Mammuts im ewigen Schnee fällt nach fast zwei Stunden Quarktreten, bis er vollkommen zerschneestöbert, ziemlich leicht. Simon Stone soll 2013 eine vielumjubelte Wildente zu den Festwochen serviert haben. Es fällt anhand des nun vorliegenden Fastfood-Borkmans mit zu wenig Jalapeños sehr schwer daran zu glauben. The Rest in Peace, John Gabriel Borkman.



John Gabriel Borkman am Burgtheater Wien | (C) Reinhard Werner

Stefan Bock - 30. Mai 2015
ID 8677
JOHN GABRIEL BORKMAN (Akademietheater, 28.05.2015)
Regie: Simon Stone
Bühne: Katrin Brack
Kostüme: Tabea Braun
Musik: Bernhard Moshammer
Licht: Friedrich Rom
Dramaturgie: Klaus Missbach
Besetzung:
John Gabriel Borkman ... Martin Wuttke
Gunhild Borkman, seine Frau ... Birgit Minichmayr
Student Erhart Borkman, ihr Sohn ... Max Rothbart
Ella Rentheim, Frau Borkmans Zwillingsschwester ... Caroline Peters
Frau Fanny Wilton ... Nicola Kirsch
Wilhelm Foldal ... Roland Koch
Frida Foldal, seine Tochter ... Liliane Amuat
Premiere am Burgtheater Wien war am 28. Mai 2015
Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Theater Basel


Weitere Infos siehe auch: http://www.festwochen.at/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

Wiener Festwochen



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