Extra-Themen: Kultur und Wirtschaft |
Sind Gesten eine international verstaendliche Gebaerdensprache?
Linguistin erforscht das Zusammenspiel von Gestik und Sprache
Gesten gehoeren zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Doch nicht
alle Fingerzeichen haben die gleiche Bedeutungen: Waehrend der
hochgestreckte Daumen des Trampers von jedem Europaeer verstanden
wird, koennt diese Geste in arabischen Laendern fatale Folgen haben -
dort ist das Handzeichen eine sexuelle Beleidigung. Die Linguistin
und Psychologin Dr. Cornelia Mueller von der Freien Universitaet
Berlin erforscht die Entwicklung von Gesten sowie das Zusammenspiel
von Gestik und Sprache.
Gesten sind kommunikative Bewegungen der Haende, der Arme und des
Kopfes. Die Gestenforschung untersucht sie als Medien der
Repraesentation und Interaktion, die aufs Engste mit dem Sprechen
verbunden sind. Wir koennen mit den Haenden viel ueber die Welt
erzaehlen - welche Form ein Gegenstand hat, wo er im Raum lokalisiert
ist, wie gross er ist. Wir koennen mit den Haenden auch zeitliche
Angaben machen: Vergangenes liegt hinter, Zukuenftiges vor uns. Dies
alles sind Gesten, die von Gespraechsbeteiligten meist unbemerkt
verwendet und verstanden werden; sie bilden gemeinsam mit dem
sprachlichen Ausdruck eine untrennbare Einheit. Fuer dieses
"Aeusserungsensemble" interessiert sich die Gestenforschung.
Unwillkuerlich zustande kommende Verhaltensweisen, wie zum Beispiel
erroeten, lachen, erblassen, weinen oder zittern, gehoeren dahingegen
nicht zum Gegenstandsbereich dieser Fachrichtung. Die Erkenntnis,
dass Gesten und Sprechen eng miteinander verbunden sind, hat seit der
Antike die rhetorische Sprachreflektion gepraegt.
Neben dem Mund sind die Haende die einzigen "Instrumente", mit denen
Menschen Sprache hervorbringen. Wie die Zeichensprachen von
kulturellen Gemeinschaften, die einem Sprachtabu unterliegen, oder
die Sprachen der Gehoerlosen zeigen, koennen wir im Notfall auch nur
mit den Haenden sprechen. Und doch kooperieren Gesten mit
Lautsprache, sie bilden kein eigenes grammatisches System aus und
werden in die grammatischen Strukturen sprachlicher Aeusserung
integriert. In der gestischen Zeichensprache entwickelt sich ein
gestisches Vokabular; die grammatischen Strukturen der "Gestensaetze"
folgen dahingegen denen der Lautsprache der Sprecher. Im Gegensatz
dazu ersetzen Gebaerden die Lautsprache dauerhaft und bilden ein
eigenes grammatisches System. Gesten und Gebaerden in Zeichensprachen
ersetzen die Lautsprache fuer einen begrenzten Zeitraum (wie beim
Schweigegebots bei Zisterzienser-Moenchen oder in der Trauerzeit bei
den Frauen der australischen Aborigines).
Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen der Gestik und der Sprache
vermeidet die Gestenforschung den Begriff der nonverbalen
Kommunikation. Es sei irrefuehrend, meint Cornelia Mueller, Gesten
als nicht-sprachlich zu charakterisieren. "Eine solche Redeweise legt
die Trennung zwischen sprachlichen und koerperlichen
Kommunikationsformen nahe, die sachlich nicht gegeben ist.
Angemessener waere hier der Begriff der multi-modalen Kommunikation."
Die meisten Gesten haben ihren Ursprung in einer Handlung. Wer
frueher zum Beispiel das Visier seiner Ruestung hochklappte oder den
Helm abnahm, zeigte deutlich, dass er kein Feind ist und nicht
kaempfen will. Als verbindliches Zeichen fuer den Frieden wird die
Waffe zur Seite gelegt, die Hand gereicht. Aus den einst handfesten
Bedeutungen sind so freundschaftliche Alltagsgesten geworden: das
Lupfen des Hutes oder das Erheben der Hand. "Die Spurensuche nach dem
Ursprung einer Geste fuehrt uns meistens zu einer Taetigkeit, die
Hinweise auf die jeweilige Kultur gibt, in der die Geste geboren
wurde", sagt die Linguistin.
Gesten sind "Kulturprodukte". Es gibt Voelker, die ein groesseres
Repertoire an Gesten mit einer festen Bedeutung haben - die
Sueditaliener verfuegen ueber einen reicheren Wortschatz an
sprachersetzend verwendeten Gesten als die Deutschen. Es gibt
Kulturraeume, in denen die Gestenausfuehrung weniger augenfaellig ist
als in anderen: In Nordeuropa werden Gesten vorwiegend aus dem
Handgelenk ausgefuehrt, waehrend sie in Suedeuropa aus der Schulter
heraus gemacht werden. Zudem gibt es kulturell verschiedene
"Gestenwoerter". So stellt in manchen Kulturkreisen die "Ringgeste" -
ein Kringel aus zwei Fingern - Anerkennung, in anderen Beleidigung:
Sie kann "perfekt" und "OK" bedeuten oder auch "Arschloch". Oder der
Fingerkringel steht fuer eine Null oder ein Geldstueck.
Koennen Gesten gezielt gelernt werden? "Nein", sagt Cornelia Mueller.
Man koenne sich zwar Handhaltungen angewoehnen, wie die Ruheposition
der Haende, aber man koenne das feine inhaltliche Zusammenspiel
zwischen Geste und Sprache nicht einstudieren. "Das ist der Rhetorik
und der Schauspielkunst nicht gelungen, und auch die modernen
Kommunikationstrainings koennen das nicht leisten", erklaert die
Psychologin. "Sie leisten es aber, Auffaelligkeiten und persoenliche
Merkmale abzutrainieren und standardisierte Grundhaltungen zu
vermitteln. Wenn aber eine freie und differenzierte Argumentation
vorgetragen wird, dann werden die Gesten spontan erzeugt und
entsprechend geformt und plaziert." Gesten kann man also nicht
lernen, aber man kann sie sich abgewoehnen. "Man kann lernen, nicht
so raumgreifend zu gestikulieren. Weniger zu gestikulieren wirkt zwar
ruhiger, aber auch langweiliger - vergleicht man etwa Michel Friedman
mit Sabine Christiansen", sagt Mueller.
Seit wann der Mensch gestikuliert, ist nicht bekannt. Ebenso wenig
ist geklaert, ob das Wort oder die Geste zuerst da war. "Vermutlich
haben sich Sprache und Gestik Hand in Hand entwickelt", meint
Cornelia Mueller. "Gefuehle wurden wahrscheinlich schon sehr frueh
mit Lauten geaeussert, und aus dem Greifen nach einem Gegenstand
wurde, ebenfalls schon frueh, die Zeigegeste." Und wie frueh? "Es
gibt Hoehlenmalereien, die Haende zeigen, an denen einige Finger
fehlen", erzaehlt Mueller und spekuliert: "Das koennten frueheste
Zeugnisse menschlicher Gestenkenntnis sein." An die Theorie, die
Gestik eines Menschen sei der Schluessel zu seiner Persoenlichkeit
und spontane, redebegleitende Gesten offenbarten seine innersten
Gefuehle, glaubt sie nicht: "Gesten koennen nur im Kontext gedeutet
werden. Dazu gehoeren die Beziehung der Gespraechspartner, der Inhalt
des Gespraechs, die Situation sowie die Koerperhaltung, die Mimik und
die Stimme." Wenn eine Person also die Arme vor der Brust
verschraenkt, heisst das noch lange nicht, dass er abweisend und
verschlossen ist, weil er - wie der Steinzeitmensch - sein Herz vor
Angreifern schuetzt. Vielleicht ist ihm einfach nur kalt.
Gelehrte Betrachtung zum Zusammenspiel von Rede und Geste gibt es
seit mehr als zweitausend Jahren. Nicht nur die Rhetorik, auch die
Philosophie, Aesthetik, Physiognomik und Anthropologie haben Gesten
untersucht, beschrieben und in theoretische Systeme eingebaut. Die
"moderne" Gestenforschung ist erst durch die mediale Revolution im
zwanzigsten Jahrhundert moeglich geworden. Die filmische
Dokumentation von sprechenden Menschen hat eine detaillierte Analyse
verschiedener Gestenformen und ihrer Verwendung beim Sprechen
ermoeglicht. In den Neunzigerjahren haben sich die Aktivitaeten der
Gestenforscher so verdichtet, dass der Zeitpunkt fuer eine Buendelung
und Institutionalisierung gekommen war: Im Jahr 2001 wurde die
internationale Zeitschrift fuer Gestenforschung "Gesture" ins Leben
gerufen und im vergangenen Jahr die Internationale Gesellschaft fuer
Gestenforschung ISGS gegruendet.
Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Dr. Cornelia Mueller, Institut fuer Deutsche Philologie (Linguistik)
der Freien Universitaet Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195
Berlin, E-Mail: gesture@zedat.fu-berlin.de
Pressedienst Wissenschaft
Freie Universitaet Berlin
Kaiserswerther Str. 16-18
14195 Berlin-Dahlem
Telefon: 030 / 838-73182
Telefax: 030 / 838-73187
http://www.fu-berlin.de/presse/fup
|
|
 |
|