Drehbuch, Filmprojekt,Biographie
Robert Kerber: Das ganzheitliche System. |
Robert Kerber
Meine früheste Erinnerung: ich erwache blitzartig in einem dunklen Raum.
Ich bin leicht erstaunt, aber nicht verängstigt, und nehme den dunklen Raum
so hin, wie er ist. Heute bin ich überzeugt, dass dieser Raum der
Mutterleib war.
In Montreal betrete ich 1965 diese Welt, einen Monat zu früh. Mein Taufpate
macht später wegen angezeigter sexueller Belästigung am Arbeitsplatz von
sich reden und bekommt beneidenswert viel Presse. An die vier Jahre in
Kanada habe ich wenige Erinnerungen, meine liebste (nach meinem
Schaukelpferd, das ich bei unserer Ausreise zurücklassen muss) ist die an
ein Sommerhaus, in dessen Nähe, von hohem Gras oder Schilf überwachsen, ein
Autowrack vor sich hin rostet, zu dem ich regelmäßig pilgere.
Kindheit auf dem Dorf im Taunus mit den üblichen Kindergrausamkeiten.
Einmal steinigen ein Spielkamerad und ich eine Kröte zu Tode. Wir spielen
Soldaten auf Baustellen oder in einer Einstiegskammer der Kanalisation.
Unser Anführer ist heute FDP-Abgeordneter, mein Spielgefährte haust in
einer Wellblechhütte an einem Autofriedhof.
1977/78 halten wir uns ein Jahr in Teheran auf. Die Abrissatmosphäre der
Slums fasziniert mich beinahe mehr als die Landschaft. Bei einem Ausflug in
die Wüste stoßen wir auf eine Fuhre verendeter Hühner, die wahrscheinlich
von einem Lastwagen abgeladen wurde. Vogelskelette und Federn, soweit das
Auge reicht. Der Geruch ist noch umwerfender als die Papiertüten mit
Schwefel und Salpeter, die wir unter großem Hallo anzünden.
Schnellvorlauf.
Abitur abgebrochen, Zivildienst als Altenpfleger, zwei Jahre mit einigen
Saufnasen umhergezogen. Reuige Rückkehr in die Bourgeoisie, ich beginne
eine Grafikerausbildung und probiere die verschiedensten Jobs aus. Der als
Proband gefällt mir am besten: den ganzen Tag mit einer Kanüle im Arm
Videos schauen.
Ende der 1980er sehe ich zum ersten Mal einen Film des New Yorker
Undergroundcineasten Richard Kern, dessen rohe Super8-Streifen bei uns
Jungfilmern einschlagen wie einst die "Sex Pistols" bei Nachwuchsmusikern.
Zwischen 1992 und 1994 drehe ich auf VHS-Video eine Reihe von
Experimentalvideos, die meisten zu Recht irgendwo verschollen, aber
immerhin drei, die "Lux Interior-Trilogie", werden mehrfach öffentlich
aufgeführt und in "Splatting Image" und "Divinity" positiv besprochen.
Zwischenspiel.
Mai 2002. Treffen mit meinem Lektor und alten Trinkkameraden
Thomas B. (heute Marketing-Manager), um den Feinschliff meines Drehbuchs
"Das ganzheitliche System" anzugehen.
Thomas: Weißt du, im Grunde hast du immer schon dieselben
Stories gemacht. Diese Sache in "(Filmtitel, gestrichen weil entbehrlich)",
wo die Leute unter Drogen gesetzt werden und sich später andere die
aufgezeichneten Empfindungen kaufen und reinziehen ...
(Anm.: Fünf Jahre vor "Strange Days" Ð ha!)
Robert: Naja, ich glaube, in erster Linie ging es in
meinen Sachen immer um Verlust. Verlust der Realitätswahrnehmung, des
sozialen Umfelds, der Ganzheit des eigenen Körpers. Und jetzt auch im
"ganzheitlichen System", der Verlust eines nahestehenden Menschen, und der
Versuch, damit umzugehen, die entstandene Lücke zu füllen, notfalls durch
Erschaffung einer Welt, wo dieser Verlust nicht stattgefunden hat. (Pause)
Und es ist auch eine Abrechnung mit (Name eines Ministerpräsidenten,
gestrichen weil gefährlich), den ich ein bisschen mit der Figur des Harlan
nachgezeichnet habe, und der, das meine ich ernst, wirklich eine Gefahr für
diese Demokratie werden könnte.
Thomas: (zieht zweifelnd eine Augenbraue hoch)
Mitte 1994 ist die Luft aus der Filmerei raus Ð der letzte Dreh war nicht
nur teuer und anstrengend, sondern ergab gerade mal sieben Minuten
brauchbares Material. Das "Splatting Image" zerreißt meine jüngsten Werke
in der Luft. Das Angebot, die Programmauswahl eines Kunstkinos in Frankfurt/
Main zu übernehmen, kommt mir gerade recht.
Nach sechs Jahren steige ich aus, nicht nur wegen der Mafiastrukturen
innerhalb der Kinoszene, sondern auch des zusehends verflachenden
Filmangebots. Ich begebe mich an die Quelle und schreibe meine ersten
narrativen Drehbücher. Das Debütwerk heißt "Das ganzheitliche System" (eben
jenes) und wird bei der Vergabe von Fördergeldern schmählich ignoriert,
aber das zweite bringt mir ein Stipendium bei den "Drehbuchlehrern" Tom
Schlesinger und Keith Cunningham ein. Sehr amerikanisch, aber sehr
erhellend.
2001 stirbt eine Tante an Krebs, ein Onkel ist nach einem Autounfall vom
Hals abwärts gelähmt. Mein Erz- und Magenfeind vom Hinterhaus erfreut sich
nach wie vor bester Gesundheit. Dann am 11. September das verlorene
Heimspiel des Superkapitalismus. Ein pornographisches Special Effects-
Spektakel frei für alle, eine Ikone des 21. Jahrhunderts wie der Bombenpilz
von "Little Boy" für das vergangene. Die exploitative Berichterstattung
anzuklagen kann ich mir nicht leisten, auch ich beute in meinen Geschichten
alles aus, dessen ich habhaft werden kann. Früher wollte ich ins
Pietätsgewerbe gehen, vielleicht ist die Schreiberei davon nicht so weit
entfernt.
Frühjahr 2002 ist "Das ganzheitliche System" fertiggestellt. Ich
beschließe, es als Filmerzählung im Eigenverlag zu publizieren. Die
Vorarbeiten verschlingen zwei Lektoren und zwei Korrektorinnen (für ein 120
Seiten-Buch). Ich hoffe, dass sich bei einem Auslandsexport ein halbes
Dutzend ÜbersetzerInnen abmühen müssen.
Epilog.
"Man tut, was man kann, man kann, was man tut." Ich verdiene meine Brötchen
als Grafiker und schlage mir die Nächte schreibenderweise vor dem Computer
um die Ohren. Die einzige Lösung, die ich guten Gewissens empfehlen kann.
Mein Kompagnon Gunter (der das Titelfoto für "Das ganzheitliche System"
beigesteuert hat) geht ganz in seiner Filmerei und Kinoarbeit auf und
kratzt jeden Monat finanziell gerade noch so die Kurve. Ach ja, und seid
dankbar, wenn ihr einen Lebensgefährten/Lebensgefährtin habt, der/die genug
Geduld aufbringt, das mitzutragen.
Zum Drehbuch / Projekt

Das ganzheitliche System. - Passage aus einer Filmerzählung zum Drehbuch von Robert Kerber
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