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Besprechung

Filmstart: 27. Mai 2010

„Postcard to Daddy“

A film by Michael Stock, D 2010


Michael Stock - http://michael-stock-filmemacher.de

POSTCARD TO SOCIETY



Der Film POSTCARD TO DADDY beginnt wie viele Alltagsdokumentationen. Bilder, Statements, Musik, Originalschauplätze, Interviews, schier atemlos folgt Aussage auf Aussage, ohne Innehalten, rasche Schnitte, unruhige Kamera… Großaufnahme: das Antlitz des Leidensmannes. – Nach einer Weile denkt man: gut, einem schlimmen Problem soll sich genähert werden. Doch schon fesseln wieder neue Aspekte der einerseits so beklemmend alltäglichen, andererseits so ganz unerhörten Geschichte, die der Regisseur Michael Stock (42) selbst durchlebt, die ihm ins Gesicht geschrieben ist, in sein schönes, ausdrucksstarkes Gesicht, das den offenbar enormen Druck zeigt, den er auszuhalten hat. Er war 8 bis 16 Jahre alt, als sein Vater eine inzestuöse Beziehung zu ihm unterhielt. Erst im Alter von 19 war er in der Lage, dies seiner Mutter mitzuteilen, die bis dahin nichts geahnt hatte.


Michael Stock - http://michael-stock-filmemacher.de


Obwohl es um die Passion eines Heranwachsenden geht, der dieser Regisseur selber war, obwohl sein Fokus immer wieder auf sich selbst gerichtet ist, zielt sein Interesse keinesfalls auf das Ego. Die insistierende Unruhe, die dem Film einen eigenartigen, ja einzigartigen und zwingend richtigen Rhythmus aufprägt, reißt mit in die quälenden Fragen, deren Sog Michaels Leben – und diesen seinen Film bestimmen. Fragen, denen man auch als Unbeteiligter, Unbetroffener nicht ausweichen kann. Die Unbeirrbarkeit, mit der Michael Stock diese Fragen filmisch erfahrbar macht, beeindruckt tief. Es geht gegen das Schweigen. Seine Fragen sind unserer ganzen Gesellschaft gestellt, nicht nur der Familie Stock. Der Regisseur (Debütfilm PRINZ IN HÖLLELAND, Publikumspreis des Ophüls-Festivals 1993) hat zwei Jahrzehnte lang darum gerungen, das Problem des Kindesmissbrauchs - aus seiner Erfahrung heraus - in einem Film zu formulieren, bei Fernsehredaktionen oder Förderanstalten unterzubringen. Mutig hat Stock, als Opfer, das Schweigen durchbrochen, dem eigenen Trauma Sprache gegeben, die so vielen anderen Traumatisierten mangelt. Es geht um die Folgen dieses Schweigens. Um das Ausweichen vor Verantwortung. Es geht nicht zuletzt um Liebe. So zeigt dieser Film vor allem einen Weg, dieses "Opfer-Sein“, das die Jugendzeit paralysiert, zu überwinden, mit immer wieder neuen, gereifteren Ansätzen, ob beruflich oder im privaten Leben, auf der Suche nach einer Art Antwort oder Wahrheit. Das macht den Film so außerordentlich stark und so wichtig.



Filmplakat POSTCARD TO DADDY - (C) Berlinale 2010


Die extremen Geschichten und Erzählebenen seien hier nicht ein weiteres Mal vorweggenommen: man sollte sie durch das Filmerlebnis erfahren. Es gibt wunderschöne Bilder und menschlich berührende Momente von Zärtlichkeit: Wenn Michael von seiner Schwester umarmt wird, öffnen sich auch Trauer und Utopie. Es gibt erschütternde Überraschungen. Aber das Entscheidende ist: Stock verweigert die Identifikation mit den Vorurteilen! Sein Film berichtet nicht von Geschlechterrollen und Täterprofilen.


Die Legende von der Sexualität wird freundlich aufgeweicht und weder mit Gewalt noch mit Schmutz und Schuld in Verbindung gebracht. Nein, da ist eine enorm positive Energie: POSTCARD TO DADDY versteht sich vielmehr als ein Aufbruch in eine noch zu gewinnende Rede über Lust. Überhaupt fehlt dem Film jede Larmoyanz und Selbstgefälligkeit, - da ist eine gewisse Eitelkeit (Michael ist sexy, das ist gut für den Film), da ist Melodramatik, der Filmdreh findet unter den kläglichsten Bedingungen einer quasi 1-Mann-Produktion ohne große Mittel statt. Dennoch gelingt ein Ausnahmefilm: Was Stock antreibt, ist nicht Hass, er entwickelt trotz all dem Leiden echte Größe. Er sucht nicht Vergeltung. Er vermittelt am Ende etwas Großartiges. Während der Regisseur in die Wiederbegegnungsszene mit dem gealterten Vater Erinnerungsbilder vom Geliebten schneidet, den er durch Selbstmord verlor (Selbstmordversuche hatte auch Stock mehrmals unternommen), gewinnt der so lange ersehnte Dialog mit dem Vater Raum, dieser wird allmählich ent-bestialisiert: man sieht kein Monster, keinen verstockten Täter. Der Film lässt diesem solchen Raum, solches Innehalten nun doch, die Uhr tickt... Beunruhigend, wartend, das Ende offen.


Michael Stock im Interview mit seinem Vater - http://www.postcard-to-daddy.de

Wenn es einen gewichtigen Original-Beitrag in der momentan tobenden Debatte um "Kindesmissbrauch" gibt, der diese aus der Opferperspektive mit Realitätsstoff zu füttern und zu differenzieren imstande ist, so zweifellos Michael Stocks erstaunlicher Film. Die Art der Darstellung macht auf bestürzende Weise deutlich, wie wenig es sich hier um einen Einzelfall handelt. Es findet eben vor allem in bereits geschützten Bereichen statt – und der geschützteste Bereich unserer Gesellschaft ist nicht in Schulen, Internaten, Krankenhäusern, Instituten, Chören, Büros oder Kirchen gegeben – sondern: in der Familie.

Nach dem Berliner Kinostart am 27. Juli fand eine Experten-Runde statt, bei der Vertreter von den zu wenigen Hilfseinrichtungen diskutierten. Übereinstimmend stellten sie fest: das aufgeworfene Problem (die Unkenntnis und Ignoranz kindlicher Sexualität/en, Begierden und Lüste) existiert in sämtlichen Schichten und Räumen der Gesellschaft, es findet völlig unabhängig von „sexuellen Orientierungen“ statt, das Schweigen, die Sprachlosigkeit und die überkommenen Moralvorstellungen sind die furchtbarsten Hürden für alle Betroffenen. Die Bürokratie der herrschenden Bilder decouvriert sich nicht nur darin, dass Menschen, die Heranwachsende begehren und selbst früher unfreiwillig sexuelle Erfahrungen mit Erwachsenen haben mussten, keine Hilfseinrichtungen finden: das „Opfer“/“Täter“-Schema greift da nicht. Diese Leere und Angst besteht nicht zuletzt gegenüber kindlicher Neugier und Sehnsucht, gegenüber zärtlicher Freundschaft und Innigkeit, auch mit erotischen Komponenten. Schwarzweiß-Malereien und blinde Radikalität helfen nicht weiter. Insofern gewinnt Stocks kompromissloser Film ganz bedeutende Relevanz in der aktuellen Diskussion. Einhelligkeit bestand auch in der Erkenntnis, wie wenig de facto in unserer Gesellschaft eine sexuelle Aufklärung von Jugendlichen geleistet wird, ob im Elternhaus, noch gar in der Schule, wo Achtjährige beispielsweise einem der Streetworker ihr Handy vorzeigten und ihn fragten, ob sie später beim Sex auch die Frau anpissen müssten, wie auf dem Video – und wo „schwul“ und „schwule Sau“ mittlerweile zu den gängigsten und vernichtendsten Schimpfwörtern zählen, von „Opfer“ zu schweigen. Gerade eine positive Sprache der Sexualität, eine offene Einstellung zur Lust und ihren Varianten mangelt unserer Kultur und vergiftet das Thema nicht selten von Kindheit an. Hier bietet besonders Michael Stocks Film einen der seltenen Ansätze: denn er urteilt nicht.


Obwohl POSTCARD TO DADDY auf der Berlinale 2010 den Jurypreis der Zeitschrift „Siegessäule“ beim Teddy-Award erhielt, wurde Michael Stocks Film von der ARD/arte Redaktion des SWR für eine Ausstrahlung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Programme abgelehnt. (MTV in USA will den Film kaufen). Man fragt sich unwillkürlich, welche Maßstäbe in den Redaktionsbüros gelten und wer diese in welchem Verantwortungsbewusstsein anwendet. Wofür gerade in den öffentlich-rechtlichen Sendern bisweilen Unsummen ausgegeben werden, steht in keinem Verhältnis zu solch einer Entscheidung, zu dieser Entscheidung. Das grenzt schon an einen veritablen Skandal. Stocks Film ist wertvoll und brisant. So ein Film tut jetzt in den gegenwärtigen Debatten Not, er sollte gerade der breiteren Gesellschaft, die mit ihren Gebühren und einem Staatsauftrag die großen Sendeanstalten trägt, keinesfalls vorenthalten bleiben.


ob. - red. 7. Juni 2010
ID 00000004663
"Postcard to Daddy"
Regie: Michael Stock
Dokumentarfilm
Deutschland 2010
86 Min.
Seit 27. Mai im Kino

Weitere Infos siehe auch: http://www.postcard-to-daddy.de


http://michael-stock-filmemacher.de



 

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