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Reihe "Türkisch-deutsches Kino"

1. Teil: Kutlug Ataman

Die Helden und Heldinnen dieser Filmreihe haben eins gemeinsam: Sie kämpfen um ein selbstbestimmtes Leben. Die Menschenrechte, für die sie sich einsetzen, waren bislang das Völkerrecht, Frauenrecht, Kinderrecht und ein fragwürdiges deutsches Asylrecht. Manchmal müssen sie einen äußeren Feind bekämpfen, wie eine Militärregierung oder Familientraditionen, die aus der Zeit der Leibeigenschaft stammen. Oft genug liegt der „Feind“ aber im Inneren. Es müssen innere Ängste und Begrenzungen überwunden werden. Das Anderssein oder das Fremde wird als Gefahr begriffen. Sowohl Türken, wie auch Deutsche fürchten sich oft vor den Minderheiten im eigenen Land. Das Unbekannte wird nicht als Chance, sonders als Bedrohung empfunden.

Diese Problematik potenziert sich, wenn ein Türke homosexuell oder gar Transvestit ist, denn hier stoßen Minderheitenrechte auf eine manchmal dünne Toleranzgrenze in der heterosexuellen Bevölkerung. Lebt der homosexuelle Türke in Deutschland wird er sogar von zwei Seiten torpediert. Faschistoide Gruppierungen von Deutschen verfolgen ihn, und auch aus den eigenen Reihen erfährt er Ablehnung und Bedrohung.

Kutlug Atamans Film „Lola und Bilidikid“ behandelt das Thema Homosexualität sehr expressiv. Auch wenn er hier gezielt eine bestimmte Minderheitenproblematik anführt, ist dieser Film doch exemplarisch für ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen: Die Angst vor dem Fremden, dem Andersein bzw. die Konflikte, die das Anderssein mit sich bringt. Ataman gilt als Repräsentant des Jungen Türkischen Kinos, obwohl er im Ausland lebt und Filme dreht, die in der Türkei wegen der Zensur weder produziert noch gezeigt werden könnten. Politik, Religion und Sexualität gehören nach wie vor zu den Tabu-Themen des arabischen und türkischen Films. Im Ausland haben türkische Regisseure mehr Möglichkeiten, solche Themen deutlich anzusprechen.

Lola und Bilidikid (Deutschland 1998)

Lola und Bili (Billy the Kid) sind ein schwules Paar. Lola zieht gerne Frauenkleider an und Bili (Erdal Yildiz) ist ein Macho-Typ. Die Liebe der beiden ist aufrichtig und innig. Doch Bili will, dass Lola eine Geschlechtsumwandlung durchführen lässt, damit er sie heiraten kann. Lola (Gandi Mukli) lehnt das aber ab: „Was ist, wenn die Frau, die du geheiratet hast, nicht mehr der Mann ist, den du liebst?“
Lola wurde vor vielen Jahren von ihrer Familie verstoßen, an dem Tag, an dem sie sich geoutet hat. Seitdem wird dort ihre Existenz geleugnet. Der Vater hat seinerzeit einen neuen Sohn gezeugt, den mittlerweile erwachsenen Murat (Baki Davrak). Seit dem Tod des Vaters ist der älteste Sohn Osman das tyrannische Familienoberhaupt. Eines Tages will Osman (Hasan Ali Mete) den jungen Murat sogar zum Beischlaf mit einer Prostituierten zwingen, damit aus dem sensiblen Jungen ein richtiger Mann wird. Murat läuft daraufhin weg. Er hat schon heimlich Kontakt zu Lola aufgenommen und sucht sie jetzt vergebens.

Lola ist verschwunden. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist. Da entdeckt ein Kind ein Meerjungfrau im Wasser. Es ist die Leiche von Lola. Für Bili ist klar, dass eine Gruppe gewaltbereiter Deutscher für ihren Tod verantwortlich ist und schwört Rache. Er verkleidet Murat als Lola, der den Lockvogel spielen muss. Bili legt sich mit drei Deutschen auf einmal an. Einen von ihnen kastriert er, den Zweiten ersticht er mit einem Messer. Sein Opfer kann aber noch mehrere Pistolenschüsse auf Bili abfeuern. Zum Schluss bleiben der verkleidete Murat und der dritte Deutsche verstört in einer Ecke kauernd zurück. - Murat erfährt, dass die Deutschen Lola gar nicht umgebracht haben.

Nun erinnert Murat sich daran, was ihm zwei befreundete Transvestiten offenbart haben. Lola wurde als junger Mann mehrfach von seinem Bruder Osman vergewaltigt. Murat stellt Osman zur Rede. Er hat Lola getötet, weil er mit seiner eigenen Homosexualität nicht zurecht kommt, und Lola ein Leben gelebt hat, das er sich selbst aus Angst nicht zugestanden hat.

In Kutlug Atamans „Lola und Bilidikid“ gehören die Mörder keiner Oberschicht an, die arme Leute unterdrückt. Es ist auch kein anonymes Militärregime, das politisch Andersdenkende verfolgt. Osman ist einer von drei Söhnen, der mordet, weil er den gesellschaftlichen Druck, der auf Homosexuellen und Türken lastet, nicht aushält. Bili, die ausführlich dargestellte Titelfigur, tötet aus einem Männlichkeitswahn heraus, der letztendlich auch ihm selbst das Leben kostet.

Die geschilderte Haupthandlung wird durch eine Nebenhandlung gespiegelt. Friedrich (Michael Gerber) ist ein schwuler Deutscher in reiferen Jahren. Er verliebt sich in den Stricher Iskender (Murat Yilmaz), der zunächst nur geschäftliches Interesse an dem wohlhabenden Adligen hat. Trotz allem entwickeln sich emotionale Bindungen zwischen den beiden. Sie überbrücken den Gegensatz zwischen Jugend und Alter, zwischen deutsch und türkisch sowie zwischen reich und arm. Beide stehen innerlich zu ihrer Veranlagung und vertreten das auch gewaltfrei nach außen. Letztlich gelingt es ihnen sogar, den Widerstand von Friedrichs dominanter Mutter zu überwinden. Ataman zeigt auch bei den Nebenfiguren, unter welchem Leidensdruck sie stehen, und entwirft ein sehr komplexes und facettenreiches Bild der Berliner Schwulen- und Transvestitenszene.

Helga Fitzner / September 2003




Kutlug ATAMAN
geboren 1961 in Istanbul

Filmographie Lola and Bilidikid, 1998
kutlug ataman's semiha b. unplugged, 1997
Memleketimi Seviyorum, 1995
Spikes and Heels, 1994
The Serpent's Tale (Karanlik Sular), 1993
La Fuga (La fuite; The Flight), 1988
Alice in Wonderland, 1985
Romance Twentieth Century Style, 1984
Hänsel and Gretel, 1984


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