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Reihe Türkischer Film

Portrait Erden Kiral

Erden Kiral wurde 1942 in der Türkei geboren und ging wegen des Militärregimes 1983 ins selbst gewählte Exil nach Berlin. Seit 1978 macht er, in großen Abständen, als Regisseur und Drehbuchautor von sich Reden. Jeder seiner Spielfilme ist ein ausgereiftes Werk mit tiefgründigen Geschichten und vorzüglichen Schauspielern. Das Leben in der Fremde mag ihn bewogen haben, in seinen Filmen vom äußeren Exil zu erzählen. Und da äußere Veränderungen meist auch innere Wandlungen mit sich ziehen, lenkt er dann die Aufmerksamkeit nach innen, auf das innere Exil. Und da entdecken seine Helden Erstaunliches über sich selbst.


„Eine Saison in Hakkari“ „Hakkari'de Bir Mevsim“, Türkei 1983

Ein freidenkende Lehrer (Genco Erkal) wird in ein abgelegenes Dorf im Südosten der Türkei strafversetzt. Es gibt dort keine Straßen, keine Elektrizität oder sonstigen Komfort. Nur Schnee gibt es. Viele Monate im Jahr ist das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten, denn es liegt hoch in der unzugänglichen Bergregion nahe der iranischen Grenze.

Der Schulraum ist verwaist, denn lange hat es hier keinen Lehrer mehr gegeben. Die Kinder laufen auch im Winter ohne Schuhe herum. Das ist kein guter Beginn für einen Intellektuellen, der sich auf Monate des Eingeschlossen-Seins im Schnee gefasst machen muss. Den Dorfbewohnern fehlt es wegen der Abgeschiedenheit an geistiger Anregung, so dass sie ihren Kindern nicht viel mitgeben konnten. Der Lehrer muss selbst losziehen, um Fibeln und Schulmaterial zu besorgen. Doch er findet dankbare und wache Schüler in den Kindern, die er mit viel Geduld und Güte unterrichtet.

Die Erwachsenen versuchen immer wieder, ihn als Autorität in ihre Angelegenheiten hereinzuziehen. Die Frau des Dorfvorstehers verlangt von ihm, ihren Mann vom Kauf einer neuen Frau abzuhalten. Wenn jemand krank ist, wird bei ihm Rat und Medizin geholt. Da er mit seinen inneren Konflikten zu kämpfen hat, ist ihm das gar nicht so recht. Doch als im Dorf und in der Umgebung mehrere Säuglinge sterben, schreibt er an die Behörden und entsendet trotz des Schnees jemandem zum nächst größeren Ort, um einen Arzt zu holen. Es stellt sich heraus, dass man auf dem Amt von der Epidemie wusste und dass kein Arzt den beschwerlichen Weg auf sich nehmen wollte.

Als er fast nicht mehr damit gerechnet hat, tritt dann doch die Schneeschmelze ein und mit ihr ein Inspektor aus der Stadt. Der ist sehr zufrieden mit dem Lehrer und kündigt ihm an, dass seine Strafe in einer Woche endet und er frei von weiteren Auflagen ist. Doch der Lehrer hat sich noch keine Gedanken gemacht, was er danach tun könnte oder wo er hingehen will. Nach den Erfahrungen der letzten Monaten kann er nicht mehr in sein altes Leben zurückkehren.

Zum Abschied sagt er den Kindern: „Während ich hier war, habt ihr vieles gelernt... Aber vergesst das alles. Die Welt dreht sich. Das stimmt. Aber hier ist es vielleicht besser, es nicht zu wissen...“ Schließlich entschließt er sich doch, den Kindern einen Rat fürs Leben mitzugeben. „Aber Menschen können auch leben, ohne dass schon ihre Kinder sterben, weil sie nicht behandelt wurden. Diese Krankheit, dieser Tod ist nicht einfach Schicksal. Es gibt nichts, was einfach nur Schicksal wäre“.

„Eine Saison in Hakkari“ ist ein ruhiger, intensiver Film, der überwiegend von der imposanten Schneelandschaft, der Lebendigkeit der Kinder und der Schauspielkunst Genco Erkals lebt. Erkal ist ein Ausnahmetalent und vor allem live auf der Bühne ein unvergessliches Erlebnis. Der Film wurde 1983 mit dem Silbernen Bären in Berlin ausgezeichnet.

„Das blaue Exil“, „Mavi Sürgün“ Türkei, Deutschland, Griechenland 1993

Dieser Film basiert auf einer wahren Geschichte. Der türkische Intellektuelle Cevat Sakir wird im Jahr 1925 wegen eines kritischen Artikels vom Militärgericht nach Bodrum an die Ägäis verbannt. Schon während der 6-wöchigen Fahrt, auf der er das einfache Leben kennen lernt, beginnt er auch eine Reise ins Innere und rechnet mit seiner Vergangenheit ab.

In Bodrum angekommen, erforscht er die Schönheiten der Landschaft, und mehr und mehr entwickelt sich die Strafe für ihn zum Geschenk. Während der Lehrer in „Eine Saison in Hakkari“ sich noch unschlüssig über seine Zukunft ist, hat Cevat Sakir seine Berufung gefunden. Auch als freier Mann bleibt er Bodrum treu. Er erforscht die Naturwunder und die Geschichte der Ägäischen Küste und der Inseln, setzt sich für den Schutz der Landschaft ein und macht die Gegend zum Gegenstand literarischer Werke, wie „Blaue Reise“.

Erden Kiral erzählt die Geschichte bruchstückhaft in etwas verwirrenden Rückblenden, die vielleicht genauso verwirrend sind wie die inneren Kämpfe, die Cevat Sakir anfänglich auszustehen hat. Die Kameraführung von Kenan Ormanlar ist insbesondere bei den Landschaftsaufnahmen stilvoll. Der Gastauftritt von Hanna Schygulla als überdreht theatralische Schauspielerin ist ein weiterer Höhepunkt des Films.


„Der Jäger“, „Avci“, Türkei 1998


„Der Jäger“ basiert auf einer türkischen Legende. Eine Hochzeitgesellschaft wird auf einem sagenumwobenen See gerudert. Der blinde Großvater berichtet während der Fahrt von einer unglaublichen Geschichte, die ihm ein Falke erzählt haben soll. Osman Bey (Ahmet Ugurlu) reitet mit seiner Frau Zala (Jake Arikan) durch einen finsteren Wald, von dem es heißt, dass die Bäume dort auf Wanderschaft gehen und die Vögel weinen. Sie werden von einem furchtbaren Unwetter heimgesucht, und finden Unterschlupf in einer verfallenen Holzhütte. Dort begegnen sie einem Jäger (Fikret Kuskan). Zala und der Jäger entbrennen in Leidenschaft füreinander. Als Osman Bey sie beim Ehebruch überrascht, erschießt er den Jäger. Seiner geliebten Frau aber verzeiht er. Zala ist jedoch wahnsinnig geworden und verschwindet im Wald.

Die Großmutter widerspricht vehement und erzählt die Geschichte ganz anders. Der Jäger behauptete von einem Schatz zu wissen, der in einem tiefen Brunnen versteckt sei. Trotz der dringlichen Bitten seiner Frau, lässt sich Osman Bey dazu verführen, mit ihm den Schatz zu heben. Dabei wirft der Jäger ihn in den Brunnen. Danach nimmt sich der Jäger Zala mit Gewalt. Zala redet ihm ein, dass sie nicht zwei Männern gleichzeitig gehören könne, er müsse Osman Bey töten. Als der Jäger auf einem Seil in den Brunnen klettert, schneidet Zala das Seil ab und überlässt beide Männer ihrem Schicksal.

Das junge Hochzeitspaar auf dem See wirft einen herzförmigen Stein zum Zeichen ihrer Treue zueinander in den Brunnen, wie es der Brauch will. Da schreit ein kleines Mädchen auf, sie sagt, sie hat Zala im Wasser erkannt.

Der Jäger hat ein paar wichtige Schlüsselsätze in dem Film. Während Osman und Zala vorgefertigte Lebensziele haben, gilt das nicht für den Jäger: „Ich hab kein Ziel. Es geht nur darum, auf dem Weg zu sein. (...) Alles ist in Bewegung. Manchmal ändern sich die Ziele“. Damit beschreibt er auch, was Erden Kirals Filme so auszeichnet. Sie befinden sich im Fluss, in der Bewegung und verteidigen keine starren Positionen, weder religiös-dogmatische noch politisch-ideologische. Den Protagonisten wird die Notwendigkeit der Innenschau nicht abgenommen. Nur so ist der Prozess der Selbstfindung möglich, der einem selbstbestimmten Leben vorangeht. Kiral klagt weder religiösen, noch politischen Fanatismus an, sondern wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Wie in „Der Jäger“ lässt er dabei unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen der Dinge nebeneinander stehen. Wichtig ist es, auf dem Weg zu sein. Und so sehr sich die Filme von Erden Kiral von denen Yilmaz Güneys unterscheiden mögen, schon Güneys Welterfolg heißt „Yol“, „Der Weg“ und nicht das Ziel.


Helga Fitzner / August 2003

Inhalt

Drehbücher, Projekte und Arbeiten

Themen:
Film-Kritiken, Besprechungen, Tipps

Feuilleton:
Berichte, Diskussionen, Beiträge

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