Bislang wurden überwiegend ernste und manchmal traurige Filme vorgestellt, da ist es an der Zeit, sich den Widrigkeiten des Lebens auch einmal auf humorvolle Weise zu stellen.
In „Vizontele“ wird die Installation des ersten Fernsehgerätes in einer abgelegenen Stadt geschildert. „Ich Chef, du Turnschuh“ spielt auf der einst größten Baustelle Europas, dem Potsdamer Platz in Berlin und ist die Regiearbeit des in Deutschland lebenden Türken Hussi.Kutlucan.
Vizontele (Türkei 2001) Regie: Yilmaz Erdogan und Ö. Faruk Sorak
(C) http://www.vizontele.com/
Gab es eigentlich ein Leben vor der Erfindung des Fernsehens? Für viele ist dies kaum vorstellbar. Es war die Zeit, in der man noch gebannt vor dem Radio saß, und mindestens einmal die Woche ins Kino ging. Im Lichtspielhaus wurden zu jenen Zeiten nicht nur Kinofilme gezeigt, zuerst gab es die Wochenschau, eine Mischung aus Nachrichtensendung und Boulevardmagazin.
Im Jahre 1974 wird im beschaulichen Städtchen Hakkari ein Fernsehgerät mit Zubehör angeliefert. Dies ist ein Beschluss aus der Hauptstadt Ankara, denn auch die Osttürkei soll an den Segnungen der technischen Errungenschaften teilhaben. Nur haben die wohlmeinenden Beamten etwas übersehen. In der abgeschiedenen Gegend ist kaum jemand mit der Technik vertraut. So stehen die Leute von Hakkari aufgescheucht und zweifelnd vor den ulkigen Geräten und kriegen sie nicht in Gang. Die Bewohner sind gespalten, die einen bejubeln die Neuerung, andere sehen in ihr Teufels Werkzeug.
In Hakkari gibt es aber jemand, der sich wenigstens mit Funkwellen von Radios auskennt. Das ist der verrückte Emin (gespielt von Regisseur und Drehbuchautor Yilmaz Erdogan), und der entwickelt sich zum Gipfelstürmer, um einen geeigneten Berg für den Sendemast zu finden. Seine Bemühungen werden aber vom windigen Kinobetreiber Latif sabotiert, der durch den Fernseher seine künftigen Geschäfte gefährdet sieht. Sein Lichtspielhaus war bisher der Treffpunkt für jung und alt der ganzen Ortschaft. Doch der technische Fortschritt ist unaufhaltsam. Eines Tages hat der verrückte Emin es geschafft. In Hakkari flimmern zum ersten Mal Bilder über einen Fernsehbildschirm.
Der Drehbuchautor und Regisseur Yilmaz Erdogan ist 1968 in Hakkari geboren und hat seine Kindheitserinnerungen mit eingebracht. Seine Figuren sind sehr liebevoll und lebensecht gezeichnet, weil sie an wirkliche Personen angelehnt sind. Erdogan und sein Co-Regisseur Ö. Faruk Sorak arbeiten schon länger zusammen. Sorak war für „Vizontele“ auch leitender Kameramann. Der Film hatte allein in der Türkei über 3 Millionen Zuschauer und lief auch in deutschen Kinos erfolgreich.
„Ich Chef, du Turnschuh“ (Deutschland 1998), Regie: Hussi Kutlucan
Viele Sorgen der in der Türkei lebenden Menschen entspringen der Armut und dem Mangel an Perspektiven. Dies gilt insbesondere für die Landbevölkerung, manchmal aber auch für Minderheiten. Dudie, ein Armenier, hat in Deutschland einen Asylantrag gestellt und ist auf einem Containerschiff in Hamburg untergebracht. Dort werden Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen wahllos zusammengepfercht. Die Spannungen, die daraus erwachsen, sind so hanebüchen, dass sie schon wieder komisch sind. Daher hatte Regisseur und Hauptdarsteller Hussi Kutlucan wenig Mühe, aus dem ernsten Asyl-Thema eine Komödie zu machen. Manchmal lässt er die krassen Gegensätze einfach unkommentiert nebeneinander stehen, manchmal hilft er mit Überzeichnungen ein wenig nach.
Als Dudies türkische Freundin sich aus dem Staub macht, um einen Deutschen zu heiraten, ist er zunächst sehr traurig. Aber auch ihm wird es immer klarer, dass seine einzige Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen, die Heirat mit einer Deutschen ist. Er verdrückt sich nach Berlin, wo er Freunde und einen Job findet. Er verdingt sich als Bauarbeiter auf der seinerzeit größten Baustelle Europas, dem Potsdamer Platz. Das Deutsch der ausländischen Arbeiter ist oft besser, als das Deutsch, mit dem die deutschen Chefs ihre Anweisungen schreien. Die Ausländer werden von ihren deutschen Vorgesetzten nicht gerade respektvoll behandelt, doch irgendwie glaubt auch so mancher Ausländer, Chef zu sein, und so haben die Migranten ihre eigene Hackordnung entwickelt. Wer einen genehmigten Asylantrag hat, steht höher in der Hierarchie, als der illegal Eingewanderte. Ausgerechnet Dudie zettelt eine Revolte wegen nicht gezahlter Löhne an und nimmt sogar das Hausschaf seines Chefs als Geisel. Dies führt letztendlich zu einer abstrusen Verfolgungsjagd durch die Polizei. Dudie kann zwar entkommen, doch da bahnt sich schon das nächste Unheil an. Er hat eine deutsche Freundin gefunden. Mit ihr und ihrem Sohn Leo will er eine Familie gründen. Bei einer Auseinandersetzung mit ihrem Ex-Mann wird sie aber versehentlich getötet. Dudie, der mittlerweile alles verloren hat, und auch nicht in seine alte Unterkunft zurück kann, befreit den 9jährigen Sohn seiner Freundin aus dem Kinderheim. Er lässt ihm die Haare färben und sie geben sich als Vater und Sohn aus. Sie erschwindeln Unterkunft bei einer alleinstehenden alten Dame, mit der sie sich anfreunden. Doch dann kommt ihnen die Polizei auf die Spur. Dudie und sein vermeintlicher Sohn Hassan werden ausgewiesen. Dudies Beteuerungen, dass der Kleine Deutscher ist und nicht sein Sohn, werden als Tricks abgetan. Der Film endet mit dem Abheben des Flugzeugs, dass die beiden in die Türkei bringt.
„Ich Chef, du Turnschuh“ ist ursprünglich eine Fernsehproduktion und bekam 2000 gleich drei Mal den Grimme-Preis für das Drehbuch, die Regie und den Hauptdarsteller. Der Grimme-Preis gilt als Fernseh-Oscar. Wegen seiner Popularität lief der Film auch auf Festivals und Kinoveranstaltungen. Kutlucan gelingt es mit dieser bittersüßen Komödie, ohne Anklage auf eine politisch-soziale Problematik aufmerksam zu machen.
Wie bei den Filmen von Yilmaz Güney finden wir hier wieder das Leitmotiv „Gefängnis“. In „Vizontele“ ist es das Gefangensein in Traditionen, das einige der Bewohner die neue Technik ablehnen lässt. Bei „Ich Chef, du Turnschuh“ werden die Menschen durch Asylbestimmungen in ihrer Bewegungsfreiheit und Entfaltung eingeengt, schränken sich aber auch selbst durch eine eigenständig entwickelte Hackordnung ein. Im Gegensatz zu Yilmaz Güney liegt diesen Filmen aber keine Ausweglosigkeit mehr zu Grunde, denn auf ihre Art sind sie alle Lebenskünstler. Hier steht die ungeminderte Lebensfreude manchmal sogar im Kontrast zum Ernst der Lage.
Helga Fitzner / Juni 2003
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Drehbücher, Projekte und Arbeiten
Themen: Film-Kritiken, Besprechungen, Tipps
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Reihe Türkischer Film Kinematographische Kuriositäten
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