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Reihe Türkischer Film

Zwei Filme über Waisenkinder

Die Themen türkischer Kunstfilme erwachsen oft aus der sozialen und politischen Situation im Lande. Besonders wenn ein Staat mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, sind die ersten Leidtragenden meist die Kinder. Gibt es dann keine Eltern oder Verwandten mehr, die sich um sie kümmern, wird ihr Leben zum Überlebenskampf. Das ist ein allgemeines und kein speziell türkisches Problem, wie an zwei sehr unterschiedlichen Beispielen gezeigt werden soll: „Auslandstournee“ und „Kalte Nächte“.

„Kalte Nächte“ „Soguc Geceler“ (Türkei 1995)

Der Film „Kalte Nächte“ „Soguc Geceler“ (Türkei 1995) von Kadir Sözen zeigt exemplarisch das Schicksal von drei Jungen, die auf der Straße leben und sich durch Musizieren über Wasser halten. Sie werden von einer zwielichtigen Gestalt namens Mahmut (Menderes Samancelar) gemanagt, der die Waisenkinder aufgelesen hat. Mit dem Versprechen, sie berühmt zu machen, beutet er ihre Arbeitskraft und ihr Talent zu seinem eigenen Vorteil aus. Nächtelang spielen sie in Restaurants und erfreuen die Zuschauer durch ihre Musik und ihre Lebendigkeit. Wenn Mahmut das von ihnen erspielte Geld für eine Prostituierte ausgibt, müssen die Jungs den Rest der Nacht außerhalb der gemeinsamen Unterkunft verbringen. Das ist die konkrete Bedeutung des Titels „Kalte Nächte“, der auf symbolischer Ebene auch auf die Gefühlskälte anspielt. Um das Einkommen zu steigern, „kauft“ Mahmut noch Aziz, einen blinden Jugendlichen hinzu, dessen in Armut lebende Eltern erleichtert sind, die Verantwortung für ihn abgeben zu können.

Irgendwann aber glauben die Jungen Mahmuts Versprechungen nicht mehr, der ständig behauptet, dass sie einen Plattenvertrag bekämen. Als er ihnen dann noch ihr mühsam erspartes Geld stiehlt, laufen sie von ihm fort. Mahmut stöbert sie aber auf, als sie ein Konzert auf der Straße geben. Erstaunlich willig lässt Mahmut sich auf die Forderungen der Kinder ein. Sie wollen neu eingekleidet werden und verlangen eine gerechte Beteiligung an den Einnahmen. Mit dem ältesten von ihnen, Aziz, will er zuerst einkaufen gehen. Auf dem Weg zum Bekleidungsgeschäft lässt der blinden Jugendlichen beim Überqueren der Straße absichtlich in ein Auto laufen. Aziz stirbt kurze Zeit später.

Bei Yilmaz Güney, dessen Filme immer wieder die Ausweglosigkeit thematisieren, wäre der Film an dieser Stelle wahrscheinlich zu Ende. In „Kalte Nächte“ (1995) rächen die drei verbliebenen Jungs den Mord an Aziz und töten Mahmut. In der letzten Einstellung sehen wir sie musizierend und fröhlich. Die Tötung des „Tyrannen“ soll hier nicht für Kinder als Hausrezept gegen unangenehme Erwachsene angepriesen werden, es ist aber eine eindeutige Entwicklung weg von der Opferrolle und bedeutet damit auch eine Entfernung vom Einfluss des „Vaters“ des türkischen Films, Yilmaz Güney.

„Auslandstournee“ (Deutschland 1999)

Das zweite Beispiel ist eine Produktion der 1970 geborenen Regisseurin Ayse Polat. Sie ist in der Türkei geboren, lebt aber seit 1978 in Deutschland. Dies ist der erste Film im Rahmen dieser Filmreihe, der von einem „Migranten“ gedreht wurde.

Hauptfigur des Films ist eigentlich gar kein Waisenkind, sondern der schwule Sänger Zeki (wunderbar gespielt von Hilmi Sözer). Der gibt seine Lieder in bestimmten Lokalen in der Türkei und auch in Westeuropa zum Besten. Eines Tages stirbt ein befreundeter türkischer Musiker, der recht wirre und ungeklärte Familienverhältnisse hinterlässt. Er hat eine Tochter in Deutschland, die bei Verwandten untergebracht ist. Die kleine Senay ist in dem Glauben herangewachsen, dass ihre Mutter gestorben sei, Zeki kennt aber ihre Mutter und weiß, dass sie noch lebt. Aus Verantwortungsgefühl und wahrer Freundschaft zu seinem toten Kollegen besucht er Senay in Deutschland. Die Verwandtschaft will das Kind ohne Unterhalt nicht weiter versorgen. Also nimmt Zeki das Mädchen mit, um eine vermeintliche Tante, genau genommen aber ihre leibliche Mutter, zu suchen.

Diese Reise gestaltet sich zur Odyssee durch Deutschland, Frankreich und die Türkei. Nach vielen Abenteuern findet Zeki die Mutter des Kindes. Aber die läuft im wahrsten Sinne des Wortes vor der Verantwortung weg. Zeki fährt zu seiner Mutter in die Türkei. Dort erntet er aber solche Vorwürfe wegen seines Lebensstils, dass er erst gar nicht versucht, Senay bei seiner Mutter unterzubringen.

Auch Senay versteht Zekis Lebensstil nicht. Sie ist ziemlich weltfremd aufgewachsen und hat noch nie etwas von Homosexualität gehört. Mit kindlicher Neugier eignet sie sich jedoch ein Verstehen der Problematik an. Als Zeki eines Tages von Schwulenhassern zusammengeschlagen wird, ruft sie geistesgegenwärtig die Ambulanz. Allmählich entwickelt sich eine vertrauensvolle Freundschaft zwischen den beiden. Diese wird auf die Probe gestellt, als Senay, die schon seit Tagen unter Bauchschmerzen litt, über Nacht zur Frau wird. Da sie aus dem Leib blutet, bildet sie sich ein, todkrank zu sein, und glaubt Zeki nicht, dass Menstruation etwas völlig Normales ist. In einer der köstlichsten Szenen des Films mietet der schwule Zeki eine Prostituierte an, die als Ärztin ausgegeben, Senays Aufklärung übernimmt.

Sowohl Zeki als auch Senay erkennen immer deutlicher, dass es niemanden gibt, der Senay in Pflege nehmen will. So entschließen sich zum Schluss die beiden Außenseiter zusammen zu bleiben. Der Schwule und das verwaiste Mädchen bilden eine Schicksalsgemeinschaft, die auf gegenseitigem Verständnis und selbstbestimmten Entscheidungen basiert.

So verschieden die beiden Filme „Kalte Nächte“ und „Auslandstournee“ sind, schildern doch beide eine gewisse soziale Kälte der Gesellschaften, nicht nur der türkischen, sondern auch der deutschen. Beide Filme machen aber auch wieder Mut, da sie Menschen zeigen, die die Verantwortung für sich selbst übernehmen. In „Auslandstournee“ sind sie sogar in der Lage, gegenseitige Verantwortung füreinander aufzubringen. Beide Filme haben einen ähnlichen ungeschönten Blick wie Yilmaz Güney auf Missstände, sprechen ihren Charakteren aber nicht mehr die Möglichkeit auf eine Änderung oder Verbesserung der Umstände ab. Wie schon in der ersten Filmbesprechung dieser Reihe bei der kleinen Hejar stehen die Kinder nicht nur symbolisch für die Zukunft, sie sind auch in der Lage, diese selbst in die Hand zu nehmen.

Helga Fitzner / Mai 2003

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