ULRICH HAUG. Ohne Titel.Text: Christoph B. Schulz - Kunsthistoriker
In einer Kiste mit Sammelsurium, im Sommer, auf einem Flohmarkt im provencalischen Forcalquier, hat Ulrich Haug eine Figur gefunden. Eine alte Jesusfigur, die den gekreuzigten Corpus zeigt, ohne Kreuz, nur Körper. Ein bisschen verloren, zwischen all dem Kram.
Wahrscheinlich ist sie unfreiwillig und durch widrige Umstände von ihrem Kreuz abgenommen worden und hat so ihren Ort, und ihren Halt, in der ikonographischen Formensprache der westlichen Kunstgeschichte verloren. Sie erinnert nur noch vage an die Verherrlichung und Anbetung im religiösen Geschehen. Sie kann nicht mal mehr alleine stehen, sie fällt um und liegt herum. Sie ist ganz Gegenstand geworden.
Als objet trouvé, zwischen Skulptur, ehemals, und religiösem Relikt, dient sie Haug als Ausgangspunkt um seine Beschäftigung mit dem Tod fortzusetzen, den Skeletten und anatomischen Skizzen, die viele seiner Bilder gezeichnet haben. Aus den Toten ist ein Toter geworden, ist die Auseinandersetzung mit einem ganz bestimmten Toten erwachsen, die nicht zuletzt auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und Aktualität christlicher Symbolik ist, deren Gültigkeit hinterfragt.
Haug kehrt den Arbeitsprozess um, macht ihn rückgängig. Der bronzene Guss wird zu einem fragilen Modell aus Bienenwachs. Von der Pose am Kreuz befreit dient ihm die Figur als Ansatz für eine neue Herangehensweise. Vom Gebrauchsgegenstand wird sie zum Versuchsobjekt, multipliziert. Haug fixiert sie auf eine Stele aus Beton, lässt sie in Wachs versinken, sich auflösen, und konfrontiert sie schließlich mit sich selbst. Durch die gekonnte Wiederholung, wie Sequenzen in Bewegung versetzt, scheint sie auf der Bildfläche zu tanzen. Ein Totentanz, bei dem nicht der personifizierte Tod mit den Stellvertretern der ständischen Gesellschaft des mittelalterlichen Lebens tanzt, sondern das Symbol der Erlösung und der Auferstehung, des Lebens schlechthin, einen stummen Reigen mit sich selbst beginnt.
Wachs ist geduldig, wie die Bedeutung. Es reagiert auf seine Umgebung. Es weiß sich anzupassen, ist geradezu abhängig von den Umständen, die es umgibt, von Temperatur und Licht. Es ist organisch, lebt und ist somit vergänglich, wie die Bedeutung, und lässt seinen Betrachter nicht nur über diese spezifische Eigenschaft des Materials nachdenken, sondern auch über die Haltbarkeit von Aussagen reflektieren.
Denn wie ist Haugs Arbeit zu verstehen? Es geht ihm nicht um eine ironische Brechung christlicher Motive und Motivationen, noch erlaubt es einem diese Arbeit von der Wiederbelebung religiös besetzter Bildformen zu sprechen. Das Aufscheinen von Bedeutung und ihr Verschwinden, die künstlerische Setzung und das Zurücknehmen jeder Eindeutigkeit gehört zu den Qualitäten von Ulrich Haugs alten, wie den neuen Arbeiten. Sie verweigern sich einer eindeutigen Lesart und das tun sie zunehmend expliziter.
In früheren Bildern ist die Schöpfung Thema gewesen, von der Tradition der christlichen Ikonographie auf ein Kräftespiel abstrakter Formen reduziert, ohne narrativen Impetus, verlässt sich Haug auf die Präsenz des Materials. Wachs, Holz, Teer, Pigmente. Sie lassen die Ikonographie und somit auch das Verstehen hinter sich und besinnen sich auf die durch die Materialien angestoßenen assoziativen Prozesse des Denkens. Diese Offenheit zeigt sich besonders deutlich in den neuen ungegenständlichen und formalen Arbeiten.
Von der Archäologie des Sehens ist bei Haugs Arbeiten die Rede gewesen. Davon, dass sie weniger zeigen, als sie zu entdecken geben. Man muss sie durchdringen, mit den Augen in die Tiefe des Wachses eindringen und kann doch meist nur ahnen, was sie verstecken. Die optische Qualität des Wachses ist von einer Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Es schließt ein und verdeckt, macht diesen Prozess aber durch seine Transparenz sichtbar. – Es sind Sehstücke, die die Tiefe des Materials sichtbar zu machen versuchen. Die Fundstücke, die Haug in ihnen verarbeitet, bringen eine unaussprechliche Geschichte mit. Aber es ist ihre Stärke, dass sie diese nicht erzählen.
Christoph B. Schulz - Kunsthistoriker
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