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CD-Besprechungen:

Zum 300. Geburtstag: Klassik, Jazz, Carillon und Blechmusik aus St. Petersburg

St. Petersburg Impressions - 9 CDs aus Jazz und Classic

Stolz dachte er:
Von hier aus drohen wir dem Schweden
Hier werde ein Stadt am Meer,
Zu Schutz und Trutz vor Feind und Fehden.
Hier hatte die Natur im Sinn
Ein Fenster nach Europa hin,
Ich brech‘ es in des Reiches Feste;
Froh werden alle Flaggen wehn
Auf diesen Fluten, nie gesehn
Uns bringend fremdländische Gäste.


(A. Puschkin: „Der Eherne Reiter“, 1833)


St. Petersburg – Petrograd – Leningrad – St. Petersburg: Genau 300 Jahre alt, blickt der Welt nördlichst gelegene Millionenstadt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. In diesem Sommer schließt sich ein geradezu kaukasischer Kreis in der Stadtgeschichte, der mitunter die Welt, immer aber die Einwohner der Newa-Metropole in Atem gehalten hat.
Seit jeher haben Poeten wie Journalisten versucht, Zar Peters Neugründung am Finnischen Meerbusen mit Superlativen zu überhäufen: Puschkin feierte die, wie nie zuvor ausschließlich nach rationalen Erwägungen am Reißbrett entstandene, neue Hauptstadt als „Fenster nach Europa“ und „Tor zum Westen“. Neidische Kritiker hingegen entdeckten einen „genialen Fehler Peters des Großen“. Andere monierten das Schicksal Hunderttausender Bauarbeiter, die ihr Leben für die „Paläste im Sumpf“ lassen mußten.
Wie dem auch sei: Die Sprache der Musik ist international und den Vertretern aller Kontinente direkt zugänglich. Für den Musikliebhaber ist St. Petersburg der richtige Ort, um aus einem unendlichen Repertoire zu schöpfen.
Der Zarin Elisabeth, Tochter Peters des Großen, wird folgende Anekdote zugeschrieben, die häufig zur Illustration der Entstehung des Musiklebens von St. Petersburg herangezogen wird: Elisabeth hatte eine gewisse Schwäche für den schönen Gesang – und eine noch größere für einen Sänger ihres – aus russischen Leibeigenen bestehenden – Chores. Dieser junge Sänger sollte sich später zu einer äußerst mächtigen politischen Figur am Zarenhof entwickeln: Graf Rasumovskij. Er lebte einst als Hirtenjunge in einem ukrainischen Dorf, ehe er dank seiner betörenden Stimme in die Hauptstadt geholt wurde.
Noch heute ist St. Petersburg eine Metropole mit einmaliger musikalischer Infrastruktur: Jeder Stadtbezirk verfügt über eine Musikschule, die Kinder schon im sechsten Lebensjahr aufnimmt. Die lange Ausbildungsreise in die Welt der Musik beginnt hier. Das erste Studium dauert acht Jahre, die Eltern müssen es selbstverständlich zum größten Teil selbst bezahlen –oft ein schwieriges finanzielles Los für die Familien, insbesondere unter den heute in der Russischen Föderation herrschenden wirtschaftlichen Verhältnissen..

Anhand folgender CDs soll die Kreativität zeitgenössischer Musiker aus St. Petersburg dokumentiert werden. Und dabei kann man feststellen: Die Stadt brachte einige der eigenwilligsten und kreativsten Künstler Rußlands hervor, die im Westen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider noch weitgehend unbekannt sind.



CD 1: „White Nights Brass“ Coffee House: Music from the Soviet Times

VÖ: 2002 / Label: memo music
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Diese Band wurde 1995 von Studenten des Staatlichen Konservatoriums ins Leben gerufen. Der Name des Ensembles reflektiert die Leichtigkeit und Unbeschwertheit ihrer Musik, die an die prachtvollen „Weißen Nächte“ von St. Petersburg erinnert – eines der wichtigsten Ereignisse in dieser großen Stadt. Seit seinen Anfängen hat sich hat sich das White-Nights-Brass Quintett darum bemüht, sein Repertoire ständig zu erweitern. Heute spielt es Arrangements aller musikalischen Stilrichtungen und Epochen einschließlich Barock, Renaissance, Klassik, Romantik, Big Band, Dixieland, Musical - und nicht zuletzt auch die altbekannte russische Blechmusik.

CD 2: „St. Peters Trio“ Petersburg Chamber Music Secrets


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Label: Mazur Media

Das St. Peter Trio wurde 1980 von Igor Irjaš (Klavier), Sergej Slovačeskij (Violoncello) und Ilja Iov (Violine) gegründet. Es setzte sich zunächst aus jungen Musikern, dann aus Studenten einer Eliteschule, die mit dem Petersburger Rimsky-Korsakov-Konservatorium verbunden war, zusammen. Der erste öffentliche Auftritt des Ensembles rief große Aufmerksamkeit hervor und öffnete den Zugang zu den besten Konzertsälen der Stadt. Einige der Auftritte wurden sogar in Rundfunk und Fernsehen der Sowjetunion übertragen.
Die CD enthält Meisterstücke von Dimitrij Šostakovič, Boris Tiščenko und Galina Ustvolskaja. Die zwar im Westen recht unbekannten, aber beeindruckenden und nachdrücklich prägenden Künstler verleihen diesem Werk höchste Aufmerksamkeit und Respekt.

CD 3: „Carillon Music“ from Peter & Paul Cathedral St. Petersburg

VÖ: 2003 / Label: Mazur Media
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Es ist Tradition in dieser wundervollen Stadt, den Glocken der Kirchen ihren eigenen Charme zu verleihen. So wurde im Herbst 2001 nach langer Pause das Carillon der Peter-Paul-Kathedrale wieder in Betrieb genommen. Es besteht aus einem Satz Glocken, gestimmt in der diatonischen oder chromatischen Tonleiter. Die Glocken sind über Hebel und Zugseile mit einer Tastatur verbunden. Das Carillon ist seit dem 15. Jahrhundert in Westeuropa in Gebrauch, mitunter werden diese Instrumente auch als „singende Türme“ bezeichnet.
Jo Haazen hat nun in Zusammenarbeit mit Mazur Media die wundervollen Klänge dieses St. Petersburger Carillon in einer CD zusammengetragen. Der Künstler steht im Brennpunkt der europäischen Glockenspielkunst, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Renaissance erlebt. Seine legendären Konzerte in der Kathedrale von Anvers (Belgien) haben schon Tausende von begeisterten Zuhörern in ihren Bann gezogen.

CD 4: „Saison Russe“ von den St. Petersburg Kammerspielern

VÖ: 2000 / Label: Mazur Media
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Auf dieser CD sind einige selten aufgeführte und eingespielte Musikwerke bedeutender russischer Komponisten zusammengestellt. Kompositionen von Aleksandr Aljabiev, Anton Arenskij und Aleksandr Borodin erreichen hier in beeindruckender Weise ihren Zuhörer.
Aleksandr Aljabievs Kompositionen wurden zu einem der farbenreichsten Kapitel in der Geschichte der Kammermusik. Zu verdanken ist dies insbesondere den allgegenwärtigen Reminiszenzen an die russische Folklore, dem herausragenden Gebrauch der „singenden“ Eigenschaften der Streichinstrumente, der brillanten Darstellung ihres Konzertpotentials, der Originalität, mit der der Komponist sein Material verwendet, und der meisterhaften Anwendung von Imitationsverfahren in Exposition und Durchführung.
Anton Arenskij ist einer der berühmtesten russischen Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sein Name ist durch das Schillern seiner Zeitgenossen und weltbekannten Lehrer und Studenten in den Hintergrund getreten. So waren Rachmaninov und Srjabin unter den Schülern Arenskijs. Seine Werke sind zurecht in das „goldene Archiv“ der russischen Musikkultur der Jahrhundertwende aufgenommen worden.
Aleksandr Borodin war vielleicht der faszinierendste russische Komponist und einer der sogenannten „mächtigen Fünf“ - einer Gruppe, deren Aktivität ein großes Zeitalter der russischen Musik einleitete. Auf dieser CD repräsentieren ein Trio und ein Quintett das frühe Schaffen des Künstlers.

CD 5: „The Unknown Secrets of Debussy & Satie“ von Ma.Gr.Ig.Al

VÖ: 2000 / Label: Mazur Media
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Die St. Petersburger Gruppe setzt sich aus den Künstlern Maksim Tolstich (Balaleika), Grigrorij Voskoboinik (Kontrabass), Igor Ponomarenko (Alt-Domra) und Aleksandr Matrosov (Bajan) zusammen. Ihre Musik ist subtil, ästhetisch und auf verschwenderische Weise gegensätzlich. Sie ist jedoch weit davon entfernt, die Albernheit, Exzentrik und „Zerstörungswut“ von Musik in Konzertsälen aufzunehmen, sondern vereint vielmehr das Unglaubliche mit dem Möglichen.
Die russische Balaleika, die Alt-Domra und der Bajan sind im Zusammenspiel mit dem sinfonischen Kontrabass plötzlich keine Volksinstrumente mehr, sondern verschmelzen zu einem einzigartigen organischen Ganzen.
Die Musik Saties und Debussys, geschrieben in Frankreichs „silbernem Zeitalter“, entsteht aus dem akustischen Gegenspiel des „Doppel-Duetts“, das zugleich bezaubert und berauscht.

CD 6: „Nice Work if you can get it“ von Digest (Jazz Impressions of St. Petersburg)

VÖ: 2003 / Label: memo music
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Die 1989 gegründete siebenköpfige Band “Digest“ besteht aus fünf „Vocalesen“: Anna Gouzikova (Sopran), Tatjana Tolstova (Alt), Arthur Eranosov (Tenor, Bandleiter), Dmitrij Skaženk (Bariton) und Dmitrij Serebrov (Bass, Cello und Arrangements). Die Gruppe wird unterstützt vom Pianisten Aleksandr Boutkeev und dem Schlagzeuger Vladimir Tounik.
Ein brillanter, stechend klarer Gesang, ein perfektes Rythmusgefühl und vor allem auch eigene Arrangements sind das Markenzeichen von Digest. Ihre unbestreitbare Professionalität und ihr hoher Anspruch spiegelt sich auch in ihrem Repertoire, in ihren Programmen wider.
Ihr einzigartiger Stil, der von Spirituals bis zu Fusion reicht, gemischt mit Elementen des Swing und Modern Jazz, zieht sich ebenfalls durch das Programm der CD.
„Wonderful Group with unique arrangements. I was surprised to hear my song in a new arrangement but I like it” kommentierte Michel Legrand das Stück “I Will wait for you”. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

CD 7: „Daylight Photography“ von ExtraTrioPlus (Jazz Impressions of St. Petersburg)

VÖ: 2003 / Label:memo music
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ExtraTrioPlus wurde 1977 von drei jungen Musikern gegründet, die sich an der St. Petersburger Jazzschule kennengelernt hatten. Eugene Strigalev (Altsaxophon), Grigorij Voskoboinik (Doublebass) und Aleksandr Machin (Schlagzeug) spielen sowohl Originalkompositionen von Eugene Strigalev als auch Arrangements einiger Jazz-Standards. Anknüpfend an den Jazz der fünfziger und sechziger Jahre wird in ihren dritten Album eindrucksvoll gezeigt, daß es gelingt, „Heute“ und „Gestern“ an eine einzigartige Verschmelzung heranzuführen.
Daylight Photography ist keine CD im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein Konzeptalbum: jeder Titel nimmt auf den vorherigen Bezug.

CD 8: „Jazz Impressions of St. Petersburg”

VÖ: 2003 / Label: memo Music
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Anläßlich des 300. Geburtstags von St. Petersburg hat das Jazz Radio „Hermitage“ ein Album mit den verschiedensten Jazz-Stilen der Stadt herausgebracht. Der Inhalt der CD von Gruppen wie Digest, Bright, ExtraTrioPlus, Mashin Trio, Soft Emotions, Volkov Trio Interjazz Quartet, Anakonda Project, Alexander Gureev Quartet und Five + Jazz Comfort spiegeln den Charakter St. Petersburgs wider. Da finden sich klassische Jazz-Nummern und originale Kompositionen, und es gibt Mainstream-Jazz ebenso wie Elemente von Acid-Jazz-Avantgarde.


CD 9: „Glory be to God“ - Kammerchor Lege Artis (Bortnjanskij)

VÖ: 2001 / Label: Mazur Media
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In den Werken Bortnjanskijs treffen italienische Chorpolyphonie und geschmeidiger Bel Canto auf die warmen Melodien und den traditionellen dreistimmigen Satz russischer und ukrainischer Lieder und Romanzen. Dieser Verbindung dreier Gesangskulturen – der russischen, ukrainischen und italienischen – hat jahrhundertelang Hörer eingenommen. Obwohl Bortnjanskij auch zahlreiche Opern und bemerkenswerte Kammermusikwerke komponiert hat, war er unter seinen Zeitgenossen und Musikliebhabern bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein überwiegend als Komponist von sakraler Chormusik bekannt.
In seinem Kompositionen lauscht man „einem Chor von Engeln, die von der Erde in den Himmel steigen und nacheinander in den leichten Wolken verschwinden“ - oder dem Gesang der Cherubim.
Diese Musik scheint sich – heiter, leuchtend und einfach – hoch über unser menschliches Leben emporzuschwingen: beim Hören dieser Klänge kann man fast die mystische „Harmonie der Welt“ berühren und gleichzeitig deren Unantastbarkeit fühlen.

Alle neun CDs haben unsere Redaktion auf eine Weise entzückt, die schwer in Worte zu fassen ist. Jedes Werk hat seine eigene Ausprägung mit wundervollen Charakteristiken. So flogen wir zu den Engeln, hörten die berauschenden Klänge der Glocken hoch über den Gipfeln der Stadt, waren erfreut über den Wirkungskreis des Jazz und Swings und wurden militärisch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Jeder dieser CDs ist ein Ohrenschmaus und ein Wink, daß die russischen Künstler endlich in der westlichen Musikkultur ihren Platz finden sollten.

s.w. + l.k. - red / 06. Juni 2003

 

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