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3 Uraufführungen!!!


31. Mai 2013, PATHOS transport theater

DANN (1)

PLATTFORM FÜR PERFORMATIVE ZUKUNFTSFORSCHUNG


Doyschland impossible mit Tunay Önder und Emre Akal - Foto (C) Hakan Karakaya



Deutschland mal anders

Wer wollte nicht schon einmal seine Zukunft erfahren? Wer von uns hat nicht schon sein Horoskop gelesen oder sich die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen lassen? Die Neugier, was mit uns in der Zukunft geschieht, steckt wohl in jedem – auch wenn man den Prophezeihungen meist keinen Glauben schenkt. Ein kleiner Blick in die Kristallkugel hat am gestrigen Abend eine mögliche Zukunft Deutschlands verraten. Im Rahmen des Projekts DANN (1) PLATTFORM FÜR PERFORMATIVE ZUKUNFTSFORSCHUNG wurde die zukünftige Gesellschaft Deutschlands im Münchner PATHOS transport theater aus drei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und das Zwischenergebnis der experimentellen Arbeitsschritte präsentiert.

*

Den Auftakt des mehrteiligen Abends machten Tunay Önder und Emre Akal mit Doyschland impossible. In einem Raum mit Dämmerlicht sitzen zwei in Burka gehüllte Damen an einem Schreibtisch mit Laptops. Im Hintergrund läuft eine orientalische, poppige Musik, und auf einer Leinwand präsentiert sich dem Zuschauer eine Gruppe von Burkaträgerinnen, die im Marilyn-Monroe-Style ihre nackten Beine zur Schau stellen. Der erste Gedanke des Durchschnittsbürgers wird wohl in diesem Augenblick gewesen sein: „Ähm… Moment mal. Da passt doch was irgendwie nicht zusammen?!“ Denn klischeegerecht sitzen die züchtigen Damen eher zurückhaltend und schweigsam am Tisch. Über einen Laptop lässt eine der Damen ihren Gedanken freien Lauf und macht diese für den Zuschauer in einem Gedankenfenster live an der Wand mittels Beamer lesbar, während sich die andere Dame alltäglichen Beschäftigungen, wie etwa dem Lackieren der Fingernägel oder dem Telefonieren, hingibt. Wer sich von der falschen Rechtschreibung der live getippten Gedanken blenden lässt und dem Glauben unterliegt, dass es sich bei Burkaträgerinnen eh um Analphabeten handeln muss, die sich in Deutschland nicht integrieren wollen und können, der wird sich gründlich täuschen. Wer die Gedanken dieser Damen liest, versteht (oder versteht eben nicht), dass es sich um ganz gewöhnliche Geistesgüter handelt. Gedanken, die sich um Freiheit drehen; Gedanken, die feststellen, dass sie nicht weniger Rechte haben, nur eben andere, und dass es auch unter einer Burka nicht schwer fällt zu atmen.

Aber unter der Burka steckt viel mehr – und dazu bedarf es eines zweiten und tieferen Blickes. Denn als eine der Damen plötzlich zum Mikrofon greift und sich mit tiefer Stimme als Mann entlarvt, wird klar, dass man sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen sollte. Passend zu den aktuellen Geschehnissen rund um das NSU-Verfahren werden als Kontrast Texte vorgetragen, die Sarrazin selbst nicht besser hätte formulieren können. Unterbrochen wird das durch die Einspielung eines Videos, auf dem zu sehen ist, wie eine Gruppe von Burka tragenden Frauen zu orientalischer Musik wild in einem Raum tanzen und damit gegen diese rechtsextremen Gedanken ankämpfen. Menschliche Gefühlsausbrüche, die auch die Burka tragende Darstellerin nicht mehr auf dem Stuhl halten und höchst amüsant wild tanzen lässt.

Doyschland impossible zeigt sich aber auch als eine sehr mutige Inszenierung, weil empfindliche Themen aufgezeigt und provokativ zur Sprache gebracht werden, als sie tot zu schweigen. Gerade zu Zeiten, in der die Münchner Bevölkerung über den Bau einer Moschee am Stachus debattiert, legen Tunay Önder und Emre Akal bewusst einen Finger in diese Wunde. Sie zeigen abschließend Aufnahmen von der Innenstadt Münchens mit dem Blick auf die Frauenkirche, das Wahrzeichen der Stadt, die durch die Klänge eines Muezzins, der über die Lautsprecher alle gläubigen Moslems zum Gebet aufruft, die Straßen beschallt. Ein Bild, das bald zur Realität werden könnte?

Und wer darauf gehofft hatte spätestens jetzt mit Terrorplänen, die geschmiedet werden, konfrontiert zu werden oder einen Selbstmordattentäter über die Bühne laufen zu sehen, wurde enttäuscht. Denn diese Inszenierung zeigt einen tiefen Blick unter die Burka, ohne sie dabei auszuziehen. Gezeigt werden Frauen, die ebenso emanzipiert oder gar rebellisch sein können wie westliche, „moderne“ Frauen. Auch eine Burka-Trägerin ist ein Mensch wie du und ich, so die Message dieser ausgezeichneten Vorstellung.


Bewertung:




Mensch und Recht (AT) mit TRANS.net - Foto (C) Hakan Karakaya



* *

Nach einem Locationwechsel vom Atelier in das Hauptgebäude des Pathos Theaters konnte die zweite Vorstellung mit dem Titel Mensch und Recht beginnen. Das Ensemble TRANS.net formiert sich im Raum. Eine sanfte Klaviermusik wird eingespielt, und die fünf Darsteller bewegen ihre Beine dazu im Takt. Sie tanzen auf der Stelle und bewegen sich zunehmend intensiver, ohne sich vom Fleck zu rühren. Nach einigen Minuten gesellt sich der sechste im Bunde hinzu und spricht egozentrische Texte von einem Podium aus in ein Mikrofon. „Ich habe mich heute hier versammelt, weil ich über die Zukunft diskutieren möchte. Ich sage ich, weil ich mich nicht für dich interessiere.“ Das einzig Zeitgemäße am Menschenrecht sei, dass es nur auf Papier existiere. Und somit wären wir auch beim Thema dieser Vorstellung angelangt, das man ohne diese Aussage und den Informationen aus der Broschüre an diesem Abend nicht verstanden hätte. Denn von nun an folgt leider ein von Atlantropa her bereits bekannter, sinnloser und nerviger Aktionismus, den es in der nächsten knappen halben Stunde zu ertragen gilt.

1-2-3-4-2-3-4-5-6
1-2-3-4-5-6-7-8

Diese Zahlenfolge wird fast bis zum Schluss ununterbrochen und in Endlosschleife, im Chor und manchmal auch einzeln, in den Raum geschrien, während man schon fast irritiert ist, welchem Schwachsinn, der sich gerade auf der Bühne abspielt, folgen soll. Denn überall passiert was – und das möglichst hektisch und/oder auffällig. Während eine Schauspielerin mit einer Leiter an einer Säule hoch klettert, um sich oben niederzulassen, quasselt eine andere Details über Ihre Anatomie und körperliche Leiden in ein Mikrofon, das von der Decke herunter baumelt. Einer spielt Töne auf einem Klavier, während ein anderer auf der Stelle dribbelt und ein weiterer Steine im Raum verteilt. Ab und an ist auf einer Leinwand ein Video von einer futuristischen Zukunft zu sehen. Im Nachfolgenden wird, als sei es wie bei einem pinkelnden Hund, Wasser an einer Säule heruntergeplätschert, während ein daneben kniender Herr Steine auf den Boden fallen lässt. Eine Schauspielerin läuft durch das Publikum und wedelt mit einem Taschentuch, das mit einem angenehmen Duftstoff versetzt ist – dies ist wohl der einzige wohlige Moment der Inszenierung, denn als einer der Schauspieler seine Jacke anzieht und den Raum für kurze Zeit verlässt, möchte man am liebsten mitgehen. Nachdem man neben diversen anderen Unsinnigkeiten - das wilde Rennen einer Schauspielerin von rechts nach links und von links nach rechts, ähnlich einem Staffellauf - über sich ergehen lässt, sehnt man sich schon nach dem Ende dieses Debakels. Aber so einfach wird es dem mittlerweile unruhig gewordenen Zuschauer nicht gemacht. Eine Darstellerin steuert einige Leute im Publikum an und fragt: „Welche Hoffnung habt ihr schon aufgegeben?“ Da möchte man am liebsten antworten „dass ihr endlich damit aufhört.“ Und nachdem man sich schlussendlich Anekdoten und Vorschriften aus der DDR angehört hat und sich auch ansah, wie mit Kreide auf dem Boden gemalt wurde, kehrt nun auf der Bühne wieder etwas Ruhe ein. Der Zahlenrhythmus, der sich längst schon in die Köpfe eingebrannt hat, verstummt, und die Klänge von Oasis Wonderwall versprechen ein Ende, bis auch das mit einem lauten Knall daherkommt.


Bewertung:




I want you back! mit Judith Al Bakri und Barbara Balsei - Foto (C) Hakan Karakaya



* * *

Nachdem man diesen absoluten Tiefpunkt des Abends überwunden hatte, kam die 20-minütige Pause wie gerufen, um sich für das nächste und letzte Stück zu sammeln, welches wieder im Atelier stattfand. Für die Videovorstellung von Hunger & Seide mit dem Titel I want you back! wurden die Zuschauer von einem abgedunkelten Raum in Empfang genommen. Rechts außen auf der Bühne eine Hängematte, auf die ein schwaches Licht gerichtet ist, in der es sich Judith Al Bakri und Barbara Balsei gemütlich machen. Das Video beginnt, und man sieht morgendliche Frühstückszubereitungen. Eier werden in einer Pfanne gebraten, Kaffee wird gekocht, Brot wird geschnitten, und die Haare werden nach dem Duschen geföhnt. Allerdings wird das alles rückwärts abgespielt, so dass man beispielsweise zusehen kann, wie sich das bereits in der Pfanne fertig gebratene Ei immer mehr zum rohen Ei entwickelt, bis es sich wieder in einer zugeschlagenen Schale im ganzen Ei befindet. Schnell wird dem Zuschauer die Besonderheit dieser Inszenierung klar. Hier spielt sich alles rückwärts ab. I want you back – und damit ist wohl die Zeit gemeint. Eine Zukunftsperspektive, die alles Geschehene wieder ungeschehen macht, damit man sich eine neue Zukunft basteln kann. Diese Art der Vorstellung sorgt immer wieder für viel Erheiterung im Zuschauerraum, denn plötzlich sieht man ungewohnte Bilder, wie zum Beispiel einen Staubsauger, der den Raum verschmutzt, statt den Dreck wegzusaugen oder Nudeln, die praktisch ausgewürgt werden, bis der Teller wieder voll ist. Jedoch ist der Effekt des amüsanten „wir lassen die Zeit rückwärts laufen und machen alles ungeschehen“ nach einigen Minuten abgenutzt und berechenbar. Nachdem man ausgewürgte Bananen, ein Schnittlauchbrot oder Tomaten gesehen hat, fragt man sich, wie viel von der Nahrungsmittelpalette wohl auf diese Weise noch abgeklappert wird und wie viel die Schauspielerinnen wohl während der Dreharbeiten zu diesem Video vor lauter Essen an Gewicht zugenommen haben müssen. Aber es wird schließlich nicht nur rückwärts gegessen. Auch zerrissenes Papier wird wieder ganz gemacht und bereits pürierte Erdbeeren in ihren Ausgangszustand versetzt. Nach dem Ende des Videos überraschen die Schauspielerinnen mit einem live rückwärts gesprochenen Dialog, bis sie auch rückwärts aus der Hängematte herauskriechen und einen gedeckten Tisch in den Raum hinein tragen, an dem sie Platz nehmen und wieder das ganze Essen in sich hinein stopfen – diesmal aber vorwärts und begleitet durch Charpentier’s Te Deum. Ob diese Fressorgie eine neue aber doch wieder unveränderte Zukunft ist und uns damit gezeigt werden soll, wie lernresistent die Gesellschaft aus Fehlern der Vergangenheit ist? Diese Frage muss wohl jeder für sich selbst beantworten. Genauso die leider akustisch unverständliche Bedeutung des abschließenden Textes, welches vom Band kam und rückwärts gesprochen aufgenommen und ebenfalls wieder rückwärts wiedergegeben wurde. Dennoch ein interessanter und unterhaltungsvoller Abschluss dieses Abends, der mit seiner Einfachheit und den kreativen Gedankengängen Appetit auf ein Hauptstück im Rahmen einer Fortsetzung des Projekts macht.


Bewertung:




Hakan Karakaya - 1. Juni 2013
ID 6803

Weitere Infos siehe auch: http://www.pathosmuenchen.de


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