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CD-Kritik

Stimmen aus den Archiven

DEUTSCHE GESCHICHTE IN ÜBER 400 ORIGINALAUFNAHMEN auf 4 MP3-CD mit einer Gesamtlaufzeit von ca. 40 Stunden - erschienen im Hörverlag, 2023

Bewertung:    



In unserer Kultur konkurrieren drei Formen der Informationsvermittlung miteinander: die schriftliche, die mündliche und die Kommunikation durch Bilder (Fotos und Film). Alle drei Formen sind in Gebrauch, wenn es darum geht, sich über die Vergangenheit kundig zu machen: durch Bücher und Zeitschriftenbeiträge, durch die sogenannte Oral History, die bevorzugt mittels einer Sicht von „unten“ die offiziöse Geschichtsschreibung zu korrigieren versucht, und durch Ausstellungen und Dokumentar-, auch Spielfilme.

Jetzt hat der Hörbuchverlag nach einer vorausgegangenen Edition über die Jahre 1900-1945 eine aufwendige Sammlung von MP3-CDs mit Jahrhundertstimmen 1945-2000 – Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen mit einer Gesamtspieldauer von rund vierzig Stunden herausgebracht. Über die Erzählung von mehr als einem halben Jahrhundert kann man, bei aller Seriosität, im Einzelnen streiten, insbesondere dort, wo von Fakten zu Bewertungen gewechselt wird. Manchmal wünschte man sich mehr Kontext. Der außerordentliche Reiz aber liegt in den Originalaufnahmen mehr oder weniger prominenter Sprecher, die größtenteils in den Archiven gelagert haben. Dabei kommt dem Rundfunk eine besondere Rolle zu. Man stelle sich nur vor, wie unser Bild von den Napoleonischen Kriegen oder gar den Auseinandersetzungen zwischen Griechenland und Troja aussähe, wenn es damals schon Radio, Phonographen und Tonband gegeben hätte.

Fast noch spannender, als das, was in diesen Aufnahmen gesagt wird, ist, wie es gesagt wird: nüchtern und mit Pathos, sachlich und propagandistisch, überzeugend und mit nur mühsam verborgenen Lügen. „Stimmen“ darf man in seiner doppelten Bedeutung verstehen: als „Meinungen“ und als individuelle akustische Äußerungen. Unheimlich ertönt die Selbstgerechtigkeit Hermann Goerings beim Nürnberger Prozess. Bestürzend die Erschütterung in Fritz von Unruhs Rede 1948 in der Frankfurter Paulskirche. Bewegend und aufrüttelnd aktuell die Ansprache Erich Kästners 1958 vor dem deutschen PEN in Hamburg. Wohltuend die Selbstironie und das Understatement von Alfred Hitchcock, die sich drastisch vom apodiktischen Gestus der meisten Deutschen auf dieser Kompilation, nicht nur in den Statements, sondern auch im Tonfall, unterscheiden und geeignet sind, die Annahme eines Nationalcharakters zu bekräftigen. Aufregend die rhetorisch eher glanzlose Auseinandersetzung über die Spiegel-Affäre, die es nahe legt, den Heiligenschein, der Adenauer für manche bis heute umgibt, zu relativieren. Fragt sich, ob sich der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP und Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag Wolfgang Döring so gegen seinen Koalitionspartner ins Zeug gelegt hätte, wenn er nicht mit Augstein befreundet gewesen wäre. Ergreifend die Worte von Oskar Schindler, die freilich die bedrängende Frage aufwerfen, warum es so wenig Schindlers gab und wieso es eines amerikanischen Films bedurfte, damit die deutsche Öffentlichkeit mit großer Verspätung von der Existenz dieses Mannes erfuhr. Amüsant das populistische Granteln von Oskar Werner, wobei man sich wiederum fragen muss, ob dieses urösterreichische Genie und sein Konflikt mit de ORF wirklich für die deutsche Geschichte in Anspruch genommen werden können. Eine verspätete Bestätigung des „Anschlusses“? Schaurig die lallende Verlesung der „Vorbeugungsmaßnahmen“ für den Fall eines Umsturzversuchs durch den Stasi-Chef Erich Mielke. Literarisch Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz. Bewundernswert das leidenschaftliche Plädoyer für eine echte Emanzipation der Frauen jenseits der Klischees von Ost und West von Regine Hildebrandt. Die Gegenüberstellung von Martin Walsers Paulskirchenrede von 1998 mit der Reaktion von Ignatz Bubis erlaubt nach beider Tod eine differenzierte Meinungsbildung aus der Distanz.

Es gibt auch komische Momente, so etwa, als sich der Oberbürgermeister von Frankfurt in einer präparierten und bereits fürs Radio aufgenommenen Rede mit erhobener Stimme für die Wahl seiner Stadt zur Bundeshauptstadt bedankte, nur um gleich darauf zu erfahren, dass Bonn das Rennen gemacht hatte. Komisch, zugleich aber aussagekräftig ist es auch, wenn der Chef der deutschen Automobilindustrie Max Thoennissen dem damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit fast den gleichen Worten huldigt wie die Berufsjubler der DDR dem Genossen Stalin.

Integriert in die Sammlung ist auch die Rede Philipp Jenningers vom 10. November 1988, die damals zu einem Skandal geführt hat. Sie dokumentiert eines der groteskesten Missverständnisse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Jenninger wurde mit Meinungen identifiziert, die er zitiert hatte, die aber, wie man mühelos erkennen konnte, wenn man nur wollte, nicht die seinen waren. Der für den Betroffenen tragische Fall hat insofern an Bedeutung gewonnen, als die Unfähigkeit, in der Literatur und besonders im Theater, die Personenrede von den Ansichten des Autors zu unterscheiden, zugenommen hat und heute zum Alltag gehört. Auch das ist deutsche Geschichte.

Es ist richtig, dass Erich Honecker, wie der Kommentar unnötigerweise betont, als wäre es nicht offenkundig, mit vielen Worten wenig zu sagen vermochte. Allerdings trifft das auch auf andere Redner dieser Sammlung zu. Wie sehr sie in Phrasen sprachen, lässt sich an der Häufigkeit ermessen, mit der man in der Mitte eines Satzes prognostizieren kann, wie er sich fortsetzen und mit welchem Verb er enden wird. Der Papst predigt angesichts rechtsradikaler Morde den Glauben an Gott (als gäbe es nicht Terroristen, die sich auf einen Gott berufen), Askese und Abstinenz von Pseudoreligionen. Bundespräsident Karl Carstens hält eine staatsmännische Weihnachtsansprache. Hatte man anderes erwartet? Fügen wir ehrlicherweise hinzu: Auch die Reden etwa von Heinrich Böll oder Lew Kopelew zeugen eher von edler Gesinnung und Liebe zum Pathos als von Erkenntniseifer. Bölls zum Ausdruck linkskatholischer Vernunft rheinischer Provenienz geronnene Jahrhundertstimme kann man hören. Kopelews vertrauenerweckenden Tolstoi-Bart muss man sich dazuimaginieren. Doch bei ihnen gilt ebenso: viele Worte, wenig Überraschungen.

*

Die wissenschaftlichen, um Objektivität bemühten und unaufgeregt vorgetragenen Kommentare des Freiburger Historikers Ulrich Herbert und die eher persönlichen des Dichters und Verlegers Michael Krüger sind sympathisch und aufschlussreich. Sympathisch ist auch, wie Michael Krüger seine Ratlosigkeit gegenüber Ernst Jünger oder über die Vorgänge um Salman Rushdie sowie seinen Ärger über die nicht zu rechtfertigende Kritikermacht eines Reich-Ranicki eingesteht. Ob er tatsächlich mit neun Jahren von Martin Buber beeindruckt war und den Chassidismus für sich entdeckt hat, darf man bezweifeln. Da wurde wohl eine spätere Erfahrung in die Vergangenheit projiziert. Und 1976, im Jahr von Wolf Biermanns Ausbürgerung, war er noch nicht Leiter des Hanser Verlags. Es mag an der Subjektivität des Rezensenten liegen, dass ihm die nölenden Beiträge der für Ostangelegenheiten zuständigen Ines Geipel dagegen eher belanglos erschienen. Welch ein Unterschied, inhaltlich, in der Haltung und im Tonfall, zur erwähnten Regine Hildebrandt. Meist resümierte Ulrich Herbert auch die Politik der DDR differenzierter und leidenschaftsloser als Ines Geipel, was bei einem Projekt wie diesem kein Nachteil ist. Seiner Bewertung der Treuhand hätte man jene von Günter Grass gegenüberstellen können. Und Michael Krüger, der an einer Stelle den Aufbau Verlag nennt, hätte wohl auch ein Wort zu Erhard Frommhold und dessen Fundus Büchern sagen können. Frommhold war für die DDR nicht weniger bedeutend als Unseld für die Bundesrepublik. Ines Geipel erwähnt ihn mit keinem Wort. Er passt nicht in ihr eindimensionales düsteres Panorama. Aber offenbar wollte man sich vor dem Vorwurf schützen, der Westperspektive, die trotz allem vorherrscht, keine Oststimme entgegengehalten zu haben.

Aus heutiger Sicht ergibt sich die Erkenntnis, dass die „Stimmen“ aus dem sowjetischen Einflussbereich, aus der DDR, nur noch eine Angelegenheit für die Archive sind. In den westlichen Stimmen hingegen kann man, wenn man nur genau hinhört, die Spuren entdecken, die zu einer Gegenwart führen, in der die Regierungsbeteiligung einer AfD eine realistische Perspektive geworden ist. Es ist viel vom Leid des deutschen Volkes die Rede und auch von Stolz. Das Eingeständnis einer historischen Schuld bleibt, mit seltenen Ausnahmen, wenn überhaupt, rhetorische Pflichtübung, genau wie die Fiktion von der angeblich endgültigen Überwindung des Nationalismus. Ist die anhaltende Hochschätzung des Antisemiten Carl Schmitt tatsächlich ein „Mirakel“, wie Michael Krüger meint, oder ist sie nicht vielmehr ein Beleg für das nie erkaltete Magma des kollektiven deutschen Bewusstseins, das aus Opportunismus vorübergehend kaschiert wurde und nur darauf wartete, bei passender Gelegenheit an die Oberfläche zu gelangen? Egon Krenz hat eine prophetische Gabe bewiesen, wenn er vom „Anwachsen des Rechtsextremismus in der BRD“ sprach. Zur tragischen Ironie gehört es, dass sich diese Beobachtung auf dem Gebiet der untergegangenen DDR verstärkt bestätigt hat. Zur Selbstzufriedenheit gibt es wenig Anlass. Die Jahrhundertstimmen sind über den Verdacht erhaben, diese Tendenz zu unterstützen. Aber lässt es sich wirklich sachlich begründen, dass das doppelte NSDAP-Mitglied Herbert von Karajan ausführlich mit historisch eher bedeutungslosen Thesen zum Dirigentennachwuchs zu Wort kommt, nicht aber der aus dem Exil zurückgekehrte, intellektuell überlegene Michael Gielen? Der Kommentar sagt an einer Stelle: „Nach dem 9. November war nichts mehr wie vorher.“ Er meint den 9. November 1989. Und nach dem 9. November 1938?

Jenseits der politischen Alternativen: Ist Harry Potter für die deutsche Geschichte wirklich von größerem Belang als, sagen wir, Der geteilte Himmel, Die neuen Leiden des jungen W. oder die „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen ? Macht die Auflage die (historische) Bedeutung eines Romans aus? Dann wären Michael Ende, Ute Ehrhardt und Hape Kerkeling die wichtigsten deutschen Autoren zwischen 1945 und 2000.

Apropos heutiger Sicht: Die Dokumentation will, sieht man von ein paar Nebensätzen Ulrich Herberts ab, nicht klüger sein als man zur Zeit der Aufnahmen sein konnte. Die Stellungnahmen etwa, die die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahr 1976 zu rechtfertigen versuchten, klingen nur widerlich und waren es damals auch. Aus heutiger Sicht allerdings, mit Blick auf Biermanns Wandlungen zum Befürworter der Einmischung der NATO im Kosovo und des Golfkriegs und zum eifrigen Verteidiger reaktionärer Anschauungen, muss man feststellen, dass sie zumindest teilweise recht hatten. Ob er errötet, wenn er sich sagen hört, dass er in einem sozialistischen Hamburg leben wollte? Biermann war und ist kein Kettenhund irgendwelcher Machthaber. Aber es ging ihm wohl weder um den Sozialismus, noch geht es ihm heute um dessen Bekämpfung. Es ging und geht ihm immer nur um Wolf Biermann. Das ist kein Staatsverbrechen, aber es relativiert den Lärm, der um seine Person gemacht wurde. Mittlerweile ist es ja auch recht still um ihn geworden. Rückblickend war der Skandal – und ein Skandal war die Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft ohne Zweifel – ein Sturm im Wasserglas, der freilich insofern historisch ist, als er so viele Prominente, sei es als Sympathisanten, sei es als Gegner Biermanns, in seinen Wirbel zog.





Und noch eins: Die Jahrhundertstimmen gehören fast ausschließlich Politikern, Professoren, Schriftstellern und Künstlern, auch Spitzensportlern und Sportfunktionären. Die DDR war nie der Arbeiter- und Bauernstaat, der zu sein sie vorgab. In den Tondokumenten aus der Bundesrepublik kommen Arbeiter und Bauern praktisch gar nicht erst vor. Sie haben so gut wie keine Stimme und werden folglich nicht gehört. Auch das ist eine Aussage über die deutsche Geschichte und über die Gesellschaft, in der wir leben. Kann sein, auch über die Weltsicht der Herausgeber der CD-Box. Sie haben Abitur. Und somit eine Stimme. Denkbar wäre ja, dass man, statt nur den wahren Charakter der DDR anzuprangern, jenen eine Bühne verliehe, die hier wie dort ignoriert wurden und werden. Sage keiner, in den Rundfunkarchiven fände sich dafür kein Material. Man muss nur anderswo suchen als in Bundestagsdebatten oder Bildungssendungen. John F. Kennedy, Ronald Reagan, Michail Gorbatschow, Jimi Hendrix oder der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees dürfen in ihrer eigenen Sprache sprechen. Der O-Ton eines italienischen „Gastarbeiters“ wird von der Stimme seines Übersetzers verdrängt.

Am Schluss entwirft Johannes Rau in pastoralem Ton ein goldenes Bild vom Deutschland des Jahres 2000. Als Resümee der vorausgegangenen 40 Stunden kann man es schwerlich werten.

Wer übrigens beim Anhören dieses Pakets Lust bekommen hat, mehr über Michael Krügers Erinnerungen zu erfahren, sei auf seine eben bei Suhrkamp erschienene Verabredung mit Dichtern verwiesen. Sie gewährt eine angenehme, für das Genre ungewöhnlich uneitle Lektüre.
Thomas Rothschild – 14. November 2023
ID 14472
Hörverlag-Link zu den Jahrhundertstimmen


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