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Eine Kleinstadtidylle in Württembergisch-Schwaben. Auf dem Marktplatz vor der buckligen Kirche steht ein Neptunbrunnen, der Herr der Meere richtet seinen Dreizack gegen das von ihm beaufsichtigte Schuppenvieh und muß stetig aus seinen Rohren Wasser lassen. Doch heute, an dem Abend, da die Fässer mit dem berühmten „Maisinger Teufelsbock“ angezapft werden, brennt die Luft. Schwärme jugendlicher Spaßbürger, zuvörderst nichtsnutzige Studenten und picklige Gymnasiasten, haben sich nach dem Fallen der Dämmerung um den Brunnen zusammengerottet, erwarten sehnsüchtig und schon leicht glasigen Blickes den Anstich, der mit einem weihevollen Auftritt der weithin bekannten Maisinger Sängerknaben vor der Kirche beginnt. Gespannt befingern sie ihre Mobiltelefone, lassen erste Blitzlichter flackern und drängen sich gegen die Absperrungen, hinter denen die sympathischen Männer von der Schwäbischen Bürgerwacht mit ihren Schlagstöcken stehen und deeskalierend rauchen. Dann schlägt es Mitternacht, und wie auf dem fernen Blocksberg beginnt auch auf dem Marktplatz von Maisingen die Party. Die Menge kommt in Bewegung, als die Corpsknaben und Sängerburschen mit ihren Fackeln und Säbeln um die Ecke biegen und den Platz in geisterhaftes Licht tauchen. Eine relaxte Einpeitscherin gurrt Gute-Laune-Sprüche in ein Megaphon, das ihre Stimme allerdings sosehr verzerrt, daß man kein Wort versteht. Aber darauf kommt es ohnehin nicht an. Der Geräuschpegel schwillt an und wieder ab, ironische Rufe wie „Erster Mai burschifrei!“ hallen zwischen den engen Häuserfronten wider, während die Sänger ihre Lieder anstimmen: „Der Mai ist gekommen, die Gedanken sind frei.“ Ausgelassene Jugendliche haben ein paar Böller mitgebracht, die sie in die Menge der Bacchanten werfen. Bierflaschen fliegen hinterdrein, und die liebenswerten Männer von der Bürgerwacht kramen ihre Feuerwehrhelme heraus. Der Platz ist erfüllt von Geräusch und dem Pechqualm der Fackeln, der schwere, süße Geruch der allenthalben angestochenen Bockbierfässer durchweht die Gassen. Auf dem Höhepunkt des Hexensabbats beginnt die Menge der Zuschauer noch einmal zu wogen, da die später Dazugestoßenen nun um ihre Fotografiermöglichkeiten fürchten. Ein paar bekiffte Mädels aus dem benachbarten Wohnheim und mehrere Kleinkinder werden bei dieser coolen kleinen Panik wie jedes Jahr niedergetrampelt – aber da ist der Zauber auch schon wieder vorbei. Die Rotte der Maisinger Sängerknaben zieht johlend von dannen, um auf den umliegenden Hügeln die Bockbierfässer zu leeren, die freundlichen Milizionäre prügeln zum Spaß noch auf ein paar besonders zottelig aussehende Kreaturen ein, dann übernimmt Neptun allmählich wieder das Regiment. Das feierlaunige Prekariat zerstreut sich und zieht neuen Verrichtungen entgegen.
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„Hallo Zentrale, bitte melden. Bitte melden!“ © S. Bürgel 2006
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Patrick Wilden, 4. Mai 2006 ID 2382
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