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Veranstaltung


2. bis 4. Juli 2010, Rudolstadt

Einmal um die Welt an einem Wochenende

Das Tanz- und Folkfest hatte 20. Geburtstag



Es ist 01 Uhr 23, ich falle zu meiner Leipziger Wohnungstür herein. Lasse mich auf den Flurboden sinken und kann es kaum fassen: Ein Kindheitstraum ist wahr geworden: Jules Verne brauchte 80 Tage um die Welt, ich nur einen. Es begann morgens: Ich stieg in Leipzig in den Zug. Keine drei Stunden später war ich in den Tropen. Meine Reise führte mich über die Beduinenzelte der Wüsten in ein englisches Pub und weiter auf eine Zigeunerhochzeit in Bulgarien. Auf einer Burg wähnte ich mich in Bayern, sonnte mich dann unter der brennenden Mittagssonne Sardiniens, tauchte in arabische Traumwelten ein und tanzte abends in Brasilien.



Für Rudolstadt und alle Fans ist es schon das 20. Tanz- und Folkfest, für mich das erste. Seit Jahren nehme ich mir beim Bart meiner Mutter vor hinzufahren, aber dann kommt doch etwas dazwischen. Die Geburt meiner Nichte zum Beispiel. Vermaledeit. Diesmal aber habe ich es wahr gemacht. Und hoffe schon bei der Ankunft, die kommenden 20 Jahre dabei sein zu dürfen. Ich halte meine aufkommende Euphorie mühsam im Zaum und trinke erst einmal beim erstbesten Bäcker einen Kaffee, um das dicke Programmheft zu studieren. Aber schon bald zieht´s mich hoch, ich folge dem bunten Strom der Passanten und lande in einer Fußgängerzone, genau genommen zwischen einem Stand mit Filzwaren und einem mit Heilsteinen. Gegenüber die geöffneten Ladentüren von Ernsting´s family und Rossmann. Sehr skurrile Mischung. Wenige Gassen weiter sitzen vor der Stadtbibliothek bereits kurz vor 11 Uhr vormittags erschöpfte Menschen mit wasserdurchtränkten Tüchern auf dem Kopf im Schatten einer Eiche. Aus den geöffneten Fenstern der Bibliothek tönen Volkslieder. Drinnen findet „Sexy Mitmachsingen“ statt. Nach dem zweiten Lied dämmert mir, woher der Name der Veranstaltung kommt. Ich hatte ganz vergessen, wie derb das deutsche Volkslied daher kommen kann und sehe gleichzeitig mit Bangen, dass sich nicht alle Familien an die FSK 16 gehalten haben. Im Eine-Welt-Laden genieße ich ein vegetarisches Couscous-Gericht und komme hinterher beim Fußbad im Brunnen mit Festivalbesuchern aus Brandenburg ins Gespräch. An uns vorbei ziehen Rentner mit gebatikten Kopftüchern, orientalisch anmutende Schönheiten und Väter mit Bollerwägen voller nackter Kinder. Gleich nebenan dringt erfreulicherweise ein Gundermann-Lied an mein Ohr. Robert Kolinski aus Greiz sitzt mit seiner Gitarre im Schatten der Burgstufen; von ihm erfahre ich, dass mein Lieblingslied des singenden Baggerfahrers ein spanisches Original hat. Straßenmusiker gibt es en masse, dieses Jahr sollen es 44 sein, und das sind nur die angemeldeten; es gibt während des TFF jeweils ein eigenes Straßenmusikprogramm.

Ich schleppe mich unter der sengenden Sonne in den Heine-Park. Unterwegs eine Menschenschlange: Im Theater wird es mit Addis Acoustic gleich äthiopischen Jazz der 50er Jahre geben. Überall am Wegesrand scharren sich Menschen um Wasserquellen. Alle Brunnen der Innenstadt – und davon gibt es unzählige – sind rettungslos in Beschlag genommen, unter Fontainen tummeln sich Kinder, an jeglicher Zugangsstelle der Saale wird gebadet. Ich treffe auf ein paar Knirpse mit Schwimmringen unterm Arm und merke auf: Es muss ein Freibad in der Nähe geben! Neid den Badehosen-Besitzern, so weit hatte ich nicht gedacht. Auf dem Festgelände im Heine-Park angekommen ergebe ich mich der Realität und kaufe mir einen Sonnenhut, womit ich mich erst jetzt als echter Festivalbesucher fühle. Hutverkäufer werden heute glücklich. Auf der Konzerbühne erlebe ich die israelische Sängerin Rechela. Lasse mich weiter treiben, trinke in den Gärten der Bauernhäuser eine Cola und fühle mich plötzlich auf dem Lande. Auf dem Kinderareal 100 Schritte weiter gerate ich unter die Räder von Tuba Libre, einer Samba-Combo in Clownsaufzug aus Spanien, die kurz darauf auf Bloco Explosao, eine Berliner Sambaband treffen. Der Beat ist perfekt, auch wenn sich die Kleinen die Ohren zuhalten – die Eltern grooven happy in der Sonne.

Ich tanze mit, allerdings etwas auf Kohlen, in der Altstadt hat laut Programm schon die Demon Barber Roadshow begonnen, da muss ich unbedingt hin. Als ich auf dem Markt ankomme, verfluche ich meine Bummelei, denn so erlebe ich nur noch den Rest der Roadshow, was wahrlich eine Schande ist – Englands bester Live-Act macht seinem Namen alle Ehre. Sängerin und Violinistin Bryony Griffith verpasst mir von 0 auf 100 eine Gänsehaut. Ich höre mir noch den Anfang der bulgarischen Nachfolgeband Diva Reka an, bevor ich mich in der Mittagshitze an den gefürchteten Aufstieg zur Heidecksburg mache. Oben warten die Wellküren. Auf den Burgstufen überhole ich ächzende Folkfans. Im Burghof angekommen, sind die Schattenplätze vor der Bühne längst besetzt, ich tauche also Kopf und Füße in den Burgbrunnen und nehme demütig einen der spärlich besetzen Plätze in der Sonne ein. Die Moderatorin dankt uns und den Wellküren dafür, trotz des „großen Ereignisses“ zur gleichen Zeit erschienen zu sein – es ist immerhin kurz vor vier am Samstagnachmittag. Die drei Schwestern aus dem bayrischen Well-Clan mischen den Burgplatz auf mit Stubenmusik, Nonnentrompeten, Dreigesang und flotten Sprüchen. Bayrisches Musikkabarett vom Feinsten. Als von einem nahe gelegenen Bierstand Gejohle ertönt, unterbricht Monika Well mitten im Stück, reißt die Faust in die Höhe und schreit „1 zu 0 für Deutschland – ja!“. Die Zugabe halten sie kurz, „dann können wir alle zusammen noch die zweite Halbzeit sehn, jawoll“. Mit Kühlpause am Brunnen, wo mein Sitznachbar kurzerhand eine Art argentinische Mandoline auspackt und mir ein Ständchen spielt, schlappe ich weiter zur Burgterasse. Dort gastiert Elena Ledda. Sie war – wie die Wellküren auch – schon vor 20 Jahren dabei, ein Urgestein des TFF also. Sie erwischt mich mit voller Breitseite. Sardinische Leidenschaft ist das eine, „Cantu a Dillu“ das andere. So etwas habe ich noch nie gehört; das wird mein Song zu Rudolstadt 2010 und meine nächste CD. Nach ihrem Konzert halte ich auf einer Bank am Burgberg inne. Es ist ein traumhafter Eindruck von da oben: Unten fiedelt und tönt es aus allen Gassen.

In der Altstadt schleichen zwei Jungs in Fußballkluft mit Fanfahne vorbei, fast scheinen sie sich zu schämen in dem Bewusstsein, wie sehr sie auffallen. Der Erdbeerverkaufsstand in der Kirchgasse macht heute wohl den Umsatz des Jahres. Zwei Jungs des Orga-Teams fahren mich netter Weise zur Drei-Felder-Halle, in der übernachten will. Im Festbüro hieß es, fünf Schlafplätze gäbe es noch. Ich werfe einen Blick in die Halle, es kommen Kirchentagsgefühle auf. Wo ich mich da allerdings noch reinzwängen soll, ist mir genau so schleierhaft wie die Vorstellung, bei 45 Grad mit 500 Mitschläfern ein Auge zutun zu können. Ich kneife, zumal ein Pochen in meinem Kopf mir signalisiert, dass ich nicht so hitzebeständig bin, wie ich bisher dachte. Ich klemme mir also Isomatte und Schlafsack wieder unter den Arm und laufe zurück zum Heine-Park, wo ich mir bei einem Vanille-Milchshake Blue King Brown aus Brasilien anhöre. Inzwischen ist es nach acht. Leider ist es zum Tanzen vor der Bühne zu voll, und auch die Lufttemperatur muss immer noch um die 32 Grad liegen. Ich habe an diesem Tag fünf Liter getrunken, musste aber bisher nur einmal auf´s Örtchen. Gemessen an kaum vorhandenen Schlangen vor den Toiletten ging es den anderen knapp 72.000 Besuchern ähnlich. Ich schlendere zum Tanzzelt und erlebe „Mitmachtanz“. Aha, daher das „Tanz“ im Festivalnamen. Leider rächt sich hier, dass ich heute Morgen nicht am Workshop teilgenommen habe, und so gebe ich bald auf. Fix noch zu Old Songs New Songs, dem CD-Zelt nebenan, eine Platte von Sophie Hunger kaufen, deren Konzert ich heute Nacht verpasse. Und dann muss ich auf einmal zum Bahnhof rennen, weil ich mich in der Strecke verkalkuliert habe. Meine Mitfahrgelegenheit von der Herfahrt ist schon da, sie hat ihre Tante dabei. Im Zug verdreckte Kinder und glückliche Gesichter. Alle sind beseelt.




In dieser Nacht gehe ich spät zu Bett. Sitze noch am Rechner und schaue mir Bands an, die ich verpasst habe. Das TFF war mir eine Art musikalische Weiterbildung, die mich geradezu manisch dazu inspiriert, neue musikalische Landschaften zu erkunden Zugegebenermaßen fehlen mir ein paar Länder auf meiner Weltreise: Schweden, Tansania, Polen, Grönland. Aber ich habe keine Sorge, diese am jeweils ersten Juli-Wochenende der kommenden Jahre ganz mühelos erleben zu können.


Sarie Teichfischer - red / 6. Juli 2010
ID 00000004710

Weitere Infos siehe auch: http://www.tff-rudolstadt.de


Post an die Autorin: sarie.teichfischer@kultura-extra.de



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