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BERLINALE


PANORAMA

Filmempfehlungen zur 63. BERLINALE




Das PANORAMA bietet wie immer eine heterogene Mischung aus großem Unterhaltungskino und thematische anspruchsvollen Independent- und Dokumentarfilmen, die alle etwas abseits des Mainstreams angesiedelt sind. Diesmal erzeugen mehrere Filme vor allem wegen ihres ungewöhnlichen Stils (Upstream Color, Narco Cultura) Interesse (was sonst eher eine Spezialität des Forums ist). Die Filme über den Nahostkonflikt und die meisten Dokumentarfilme ragen heraus. Ein Blick in die Runde in alphabetischer Reihenfolge der offiziellen Berlinale-Titel mit folgender Bewertung:


**** ohne Einschränkungen empfehlenswert
*** mit kleineren Einschränkungen empfehlenswert
** mit größeren Einschränkungen empfehlenswert
* nicht empfehlenswert

WP: Weltpremieren.

Alle Filme mit engl. Untertiteln




The Act of Killing - Foto (C) Carlos Arango de Montis


*** The Act of Killing, DOK
von Joshua Oppenheimer (Dk/Nor/GB), 120 min, Indonesisch/Englisch; mit Anwar Congo, Herman Koto u.a.

Nach dem indonesischen Militärputsch 1965 wurden von willfährigen Paramilitärs und sadistischen Kriminellen innerhalb eines Jahres über eine Million vermeintlicher Kommunisten umgebracht. Die Morde bleiben bis heute ungeahndet, die Täter leben unbehelligt und bisweilen sogar geachtet inmitten der von sozialen Unterschieden geprägten indonesischen Gesellschaft. Das Konzept des Regisseurs zur Aufarbeitung ist eine mutige, spektakuläre Gratwanderung: Er lässt einige Mörder von einst, die inzwischen ein gemächliches Rentnerdasein führen, ihre damaligen Folter- und Tötungsmethoden an authentischen Orten vorführen oder gar in eigens aufgebauten Kulissen nachinszenieren. Da die Männer auf ihren gesetzlosen Status schon immer stolz waren und auch heute wenig Grund zur Reue sehen, ergeben sich bizarre, für den Zuschauer bisweilen über die Grenze des Erträglichen gehende Situationen. Zwar bringt das Filmprojekt die Männer zum Reden und ansatzweise zum Nachdenken über ihre Taten. Aber insgesamt ist es eine ernüchternde Bestandsaufnahme einer von militärisch aggressivem Gedankengut infizierten Gesellschaft, die sich bestimmter, skrupelloser Mentalitäten bedient hat, die sie nie wieder abschütteln konnte (s. zum Vergleich à Terra de Ninguém / No Man's Land im FORUM).



**** Alam Laysa Lana (A World Not Ours), DOK
von Mahdi Fleifel (Libanon/Großbritannien/Dänemark), 93 min, Arab./Engl.

Der dänische Regisseur zeigt das Leben dreier Generationen im palästinensischen Flüchtlingslager Ain el-Helweh im Süd-Libanon, in dem er selbst Teile seiner Kindheit verbracht hat. Die flüssig und abwechslungsreich geschnittene Collage aus aktuellen Aufnahmen und Videos aus den achtziger Jahren gibt auf eindringliche Weise Aufschluss über die zum Teil menschenunwürdigen Lebensumstände, unter denen mehr als 70.000 Menschen auf einem Quadratkilometer seit über 60 Jahren zusammenleben müssen. Dank der Sensibilität des Regisseurs für die Absurditäten der Situation und dem fatalistischen Humor seiner Gesprächspartner unterhält der Film durchgängig, ohne dass die allgemeine Perspektivlosigkeit, Verzweiflung und Resignation der Betroffenen verharmlost werden. Anders als bisher wird das Schicksal der Region aus gebrochen-autobiografischer Sicht mit starken familiären Bezügen geschildert, also die Folgen von Politik personalisiert und zugleich die eigene Einstellung reflektiert.



** Art/Violence, DOK (WP)
von Udi Aloni, Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled (USA), 75 min, Arabisch/Engl./Hebräisch

Am 4. April 2011 wurde der palästinensisch-jüdische Schauspieler, Regisseur und Friedensaktivist Juliano Mer-Khamis, Gründer des Freedom Theatres im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin im Westjordanland, von Unbekannten hinterrücks ermordet. Mer-Khamis Theater sollte Jugendlichen einen Ort bieten, inmitten einer desolaten Situation über künstlerische Ausdrucksmittel einen eigenen Weg aus der Misere zu entwickeln. Die Dokumentation zeigt die bedrückende Zeit nach Mer-Khamis Tod und die Bemühungen seines israelischen Kollegen Udi Aloni, zusammen mit drei jungen palästinensischen Schauspielerinnen sowie anderen Mitstreitern das Theaterkonzept des Ermordeten fortzuführen und zugleich dessen Schicksal und dessen Abwesenheit zum Bühnenthema zu machen. Die (Ausschnitte von) Neuadaptionen von Klassikern wie Alice im Wunderland, Warten auf Godot oder Antigone sind von Verzweiflung und dem Wunsch nach einer Welt mit mehr Fantasie und weniger Gewalt und Unterdrückung (auch von Frauen) geprägt. Hier hat Theater noch Relevanz und Dringlichkeit. Schade nur, dass man über Leben und Werk des Ermordeten kaum etwas erfährt.



** Baek Ya
von Hee-il LeeSong (Republik Korea), 75 min, Koreanisch; mit Tae-hee Won, Yi-kyung Yi

Flugbegleiter Won-Gyu und seine Internet-Bekanntschaft Tae-Jun, ein Motorradbote, verabreden sich für einige Stunden in Seoul, erleben die Ambivalenz des Sich-Annäherns und homophobe Attacken von Machotypen, bevor sie sich doch noch hastig einander hingeben. Ausgesprochen melancholische, skizzenhaft bleibende Geschichte einer zeitgemäßen Art, Sehnsucht zu kompensieren und Bekanntschaften zu schließen.



*** Behind the Camera
von E J-Yong (Republik Korea), 85 min, Koreanisch; mit Yuh-jung Youn, Hee-soon Park, Hye-jung Gang, Jung-se Oh, Min-hee Kim

Ein Film übers Filmemachen, wie schon bei E J-Yongs Mockumentary The Actresses (PANORAMA 2010): Um als avantgardistisch zu gelten, hauptsächlich aber, um die schlagzeilenträchtige Behauptung wahr machen zu können, er drehe erstmals in Hollywood, gibt ein junger koreanischer Regisseur von dort aus seinem Team in Seoul die Anweisungen für seinen neuen Film per Skype. Die am Filmset üblichen zwischenmenschlichen Animositäten und Kommunikationsprobleme gewinnen eine zusätzliche, anarchische Komponente, bis kaum mehr klar ist, wer was aus Ernst oder Spiel betreibt. Ein Film, der seinen Reiz nicht so sehr aus dem Vexierspiel zwischen Wahrheit und Illusion gewinnt, sondern daraus, dass er eine spezielle, undurchschaubare (zukünftige?) Art des Filmemachens im selben Moment entwickelt und hinterfragt, in dem er selbst entsteht. Die Dramaturgie spiegelt die Arbeit am Set und bleibt doppelbödig bis zum Schluss.



** Burn it up, Djassa
von Lonesome Solo (Elfenbeinküste/Frankreich), 70 min, Französisch; mit Abdoul Karim Konaté, Adelaïde Ouattara, Mamadou Diomandé, Souleymane Bamba

Wenige Monate vor Ausbruch des Bürgerkriegs in der Elfenbeinküste schloss sich ein Filmteam aus Wassakara, einem Armenviertel Abidjans in der Elfenbeinküste, zusammen, um das Lebensgefühl junger Menschen in den von Armut und Perspektivlosigkeit geprägten Ghettos der Großstädte im Stil antiker Tragödien zu vermitteln: Statt eines Chores begleitet Rap und Slam Poetry die Geschichte um den jungen Tony, der wegen eines Totschlages von der Polizei gesucht wird – in Person seines eigenen Bruders. Nicht gerade originell oder tiefschürfend, aber von authentischer Kraft.



* Chemi Sabnis Naketsi
von Zaza Rusadze (Georgien), 73 min, Georgisch/Russisch, WP; mit Tornike Bziava, Tornike Gogrichiani, Zura Kipshidze, Avtandil Makharadze

Für Freunde unentschlüsselbarer Metaphernketten: Szenen aus dem seltsam surrealen, gleichförmigen Leben einiger Personen in einer provinziellen, georgischen Kleinstadt, die wie aus der Zeit gefallen wirkt. Ein Film wie ein Rätsel, das in einem Mysterium verborgen ist, das in einem Geheimnis steckt. Die durchaus beachtliche Vorgehensweise, keiner einzigen Szene eine klare Bedeutung zu verleihen, endet in ermüdender Beliebigkeit.



** Frances Ha
von Noah Baumbach (USA/Brasilien), 86 min, Englisch; mit Greta Gerwig, Mickey Sumner, Adam Driver

Eine Art Fortsetzung von Baumbachs Greenberg im Wettbewerb 2010 mit einem weiblichen Greenberg in New York – allerdings bei weitem nicht so amüsant, weil die zerstreute Protagonistin Frances mit ihrer Überdrehtheit und ihren Macken nicht nur den Menschen auf der Leinwand auf die Nerven geht. Ebenso wenig wie die Schwarz-Weiß-Ästhetik an Bedeutung hat, weiß der Film mit seiner Figur und ihrem Umfeld, der jüdisch-intellektuellen Bohème Greenwich Villages, anzufangen. Woody Allen hat derlei vor vierzig Jahren unterhaltsamer und substanzieller beschrieben.



*** Gut Renovation, DOK
von Su Friedrich (USA), 82 min, Englisch

1989 renovierte Su Friedrich mit Mitbewohnern eine Industrieetage in Williamsburg, einem Arbeiterviertel Brooklyns. 2005 wurde das ehemalige Industriegebiet zum reinen Wohngebiet deklariert. Die produzierenden Betriebe, Handwerker und Künstlerlofts wurden von Bauspekulanten verdrängt, die man mit Steuergeschenken angelockt hatte. Friedrich dokumentierte fünf Jahre lang den Abriss der Industriebauten und die Konstruktion der schicken Eigentumswohnungen für eine wohlhabende Klientel zwischen East River und dem Brooklyn Queens Expressway, den Abschied der alten und den Einzug der neuen Bewohner. Während sie über die Entwicklung akribisch Buch führt, werden Ausmaß und Tempo des Umbaus deutlich. Auch Friedrichs Mietvertrag läuft aus - und so werden ihre dokumentarische Kamera und ihr Kommentar zu Werkzeugen ihrer wachsenden Wut.

Die Dokumentation der Veränderungen wird zur lokalen Geschichtsschreibung. Ein wehmütiger, essayistischer Abgesang auf ein Stadtviertel und einen Lebensstil, aber auch eine Fallstudie zur galoppierenden Gentrifizierung in den Städten.



*** Habi, la extranjera (WP)
von María Florencia Alvaréz (Argentinien/Brasilien), 92 min, Spanisch; mit Martina Juncadella, Martin Slipak, María Luisa Mendonça, Lucía Alfonsín

Eine Adressenverwechselung führt einen Teenager in eine muslimische Gemeinde von Buenos Aires, deren Fremdheit sie fasziniert. Sie beschließt daher, in der Stadt zu bleiben und die Rolle einer anderen Person namens „Habiba Rafat“ zu übernehmen. Auf Entdeckungsreise zu sich selbst entflieht die junge Protagonistin ihrer Identität räumlich, seelisch und spirituell, verstrickt sich in Lügen und durchläuft ihr weiteres Schicksal selbstbestimmter als vorher. Der Wunsch nach anderen Erfahrungen und Eigenständigkeit in Folge des Erwachsenwerdens inszeniert die Regisseurin stimmig und lebendig.



**** Inch'Allah
von Anaïs Barbeau-Lavalette (Kanada/Frankreich), 95 min, Franz./Arab./Engl./Hebr.; mit Evelyne Brochu, Sabrina Ouazani, Yousef Sweid, Sivan Levy, Carlo Brandt

Die junge kanadische Ärztin Chloé, die für die UN in einem Krankenhaus in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland schwangere Frauen behandelt, muss miterleben, dass ihre Hilfe oft an Grenzen stößt oder behindert wird. Die sensible junge Frau, die eigentlich nur Menschen in Notlagen helfen will, wird schließlich auf tragische Weise tief in den Nahost-Konflikt verwickelt, nachdem sie miterlebt hat, wie ein arabischer Junge von einem israelischen Armeejeep überrollt wurde. Die dramaturgisch packend gebaute, sich zuspitzende Handlung des Films stellt den Alltag des palästinensisch-israelischen Konfliktes als eine auch für Außenstehende unentwirrbare Zwickmühle dar. In der Figur der in ihrer Loyalität zu arabischen Patienten und israelischen Freunden überforderten Chloé spiegelt sich quasi der Schlamassel zumindest der konstruktiv gewillten Friedensbewegung und Weltgemeinschaft wieder: Vernunft und Augenmaß greifen ins Leere, wo eine Art archaische Stammeszugehörigkeit die bedingungslose Unterstützung jeweils einer Seite einfordert und Trotz, Rachegelüste oder Rechthaberei dominieren. Ebenso wie der israelisch produzierte Rock the Casbah (à s. dort) kritisiert auch dieser Film in erster Linie die israelische Besatzungspolitik, wobei er noch eindringlichere Bilder findet; z.B. wenn ein kleiner arabischer Junge in einem abgewetzten Supermannkostüm inmitten des Zivilisationsmülls, der auf der palästinensischen Seite der Grenzmauer aufgetürmt ist, ein kitschiges Ölgemälde der heiligen Stadt Jerusalem findet.



** Interior. Leather Bar
von Travis Mathews, James Franco (USA), 60 min, HDCAM, Englisch

William Friedkins Kriminalfilm Cruising sorgte 1980 nicht nur bei seiner Präsentation im Wettbewerb der Berlinale für heftige Kontroversen. Dem Film, in dem Al Pacino einen Undercover-Polizisten spielt, der in der schwulen Lederszene ermittelt, wurde von schwulen Aktivisten vorgeworfen, er schüre homophobe Stereotypen. Um eine Altersbeschränkung zu umgehen, wurde der Film außerdem um 40 womöglich zu explizite Minuten beschnitten. Der Oscar-nominierte Schauspieler James Franco hat es sich in Zusammenarbeit mit Travis Mathews zum Konzept gemacht, diese mittlerweile verschollenen und dadurch zum Mythos gewordenen 40 Minuten zu reinszenieren. Der Film stellt das Making-of mehrerer Szenen dar, die in einer New Yorker Leder-Sex-Bar zu Zeiten vor AIDS inszeniert wurden und fokussiert sich hierbei auf Val, der die Rolle Al Pacinos verkörpert und Bedenken hat, als heterosexueller Hollywood-Schauspieler in einem schwulen Film mitzuspielen. Der Film changiert zwischen dem Set und seinen Laiendarstellern, imaginärer Realität und Fiktion. Die Dialoge von Regisseur (Franco) und Hauptdarsteller (Val Lauren) hinterfragen die Mechanismen des Hollywood-Mainstreamkino im Umgang mit sexuellen Themen.



*** Kashi-ggot
von Don-ku Lee (Republik Korea), 103 min, Koreanisch; mit Yeon-woo Nam, Jo-a Yang, Jeong-ho Hong, Ki-doong Kang

Zehn Jahre, nachdem der linkische, naive Sung-gong von einer Gruppe gleichaltriger junger Männer in die Vergewaltigung eines narkotisierten Mädchens verstrickt wurde, erkennt er in einer Missionarin der christlichen Kirche in Südkorea das Opfer von früher wieder. Beseelt von dem Gedanken an Wiedergutmachung und Vergebung schließt er sich der Gemeinde an, bis er beschämt und wütend erkennen muss, wie sehr das Opfer leidet, während die Täter von einst ein ruhiges Leben führen. Der zunächst recht plakativ wirkende Film steigert sich zu einer immer intensiveren, komplexen Abhandlung über irdische und religiöse Sühne- und Erlösungskonzepte. Auch wenn anzumerken ist, dass die Hauptfigur ausgesprochen unbedarft ist und nur deshalb mehrfach zum Werkzeug aggressiver Kräfte und Phantasien wird, so sind die vom Film aufgeworfenen existentiellen Fragen nicht nur unter theologischen Gesichtspunkten von beklemmender Qualität. Ist z.B. ein aufgrund von Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen adaptierter Glaube weniger wahrhaftig als ein gewachsener, auf Vergebung statt Vergeltung abzielender?



*** La maison de la radio, DOK (WP)
von Nicolas Philibert (Frankreich), 103 min, Französisch

Ein amüsanter und abwechslungsreicher Blick hinter die Türen des „runden Hauses“ von Radio France an den Ufern der Seine. Illustriert wird die tägliche Sisyphusarbeit der Radiojournalisten, das Weltgeschehen und insbesondere das Kulturleben für ihr Publikum zu erfassen, zu filtern, zu vermitteln oder auch selbst zu produzieren. Eine Würdigung der programmlichen Vielfalt des traditionellen, öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Menschen, die sich ihm verschrieben haben als buntes Patchwork. Die sich an einem Tages- und Nachtverlauf orientierende Dramaturgie wird leider nicht stringent durchgehalten.



*** Maladies (WP)
von Carter (USA), 97 min, Englisch; mit James Franco, Catherine Keener, David Strathairn, Fallon Goodson, Vince Jolivette

Debütfilm über die Freundschaft dreier Außenseiter in einem Haus am Strand in der Nähe von New York im Jahr 1978: James war ein erfolgreicher Seriendarsteller, eine mögliche Geisteskrankheit ließ ihn den Job aufgeben; seine Schwester Patricia redet kaum und lebt in ihrer eigenen Welt; die fürsorgliche Catherine ist Malerin und Crossdresserin. Mithilfe einer assoziativen Erzählstruktur spiegelt der Regisseur und bildende Künstler die eigene Branche. Ironisch subtile Tragikomödie, deren hochqualifizierte Besetzung sich in einem abhängigen Kammerspiel wiederfindet und mit spitzfindigen Dialogen über kreative Unabhängigkeit und die Bürde des Kunstschaffens amüsiert.



** Mes séances de lutte (WP)
von Jacques Doillon (Frankreich), 98 min, Französisch; mit Sara Forestier, James Thiérrée

Sie küssten und sie schlugen sich: Eine junge Frau kehrt nach dem Tod ihrer Vaters, der sie nie liebte, wegen Erbschaftsstreitigkeiten mit den Geschwistern in ihr Heimatdorf zurück, wo sie auf einen deutlich älteren, intellektuellen Bohemien trifft, der seine Tage zwischen Landwirtschaft und Schriftstellerei verbringt. Zwischen beiden entwickeln sich (spürbar improvisierte) sprachliche Duelle und Raufereien, die erst spät, aber dann aber umso heftiger in sexuelles Verlangen ausarten. Die Idee von einer zunächst richtungslos vor sich hin schlingernden, aber von physischer Spannung hochaufgeladenen Amour fou könnte reizvoll sein. Aber Spannung, Melodramatik und Esprit bleiben bei diesem Pas-de-deux im Schongang. Und wie immer bei Doillon: banal bebildert.



*** Naked Opera, DOK (WP)
von Angela Christlieb (Luxemburg/Deutschland), 85 min.

Liebenswert gezeichnetes Porträt eines intelligenten, vermögenden Luxemburgers durch eine präsente Regisseurin. Marc Rollinger plant seine Reisen nach den jeweiligen Don Giovanni-Inszenierungen in den Metropolen Europas und lädt sich Liebhaber ein, in deren Charakter er sich verfängt, ein bisschen Sehnsucht entwickelt und froh ist, wenn er sie wieder loswird. Rollinger hat aber auch noch die Eigenschaft, amüsant widerspenstig zu wirken, die Crew zu gängeln und sich verletzlich zu zeigen. Ohne Marc Rollinger und seine selbstreflektierenden Qualitäten wäre solch ein Film nicht möglich.



*** Narco Cultura, DOK
von Shaul Schwarz (USA), 103 min, Englisch/Spanisch

Dokumentiert werden zwei soziokulturell miteinander verbundene Phänomene: Zum einen die ausufernde Bandenkriminalität in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez und die hilflosen Versuche der örtlichen Polizei, ihr Einhalt zu gebieten. Zum anderen die wachsende Popularität der Narco-Subkultur in Latinokreisen der USA, die in einer Mischung aus Hiphop und volkstümlicher Musik die Amoralität und die Gewaltexzesse der Drogenkartelle besingt. Die bedrückend brutale Realität und Hoffnungslosigkeit der Betroffenen auf mexikanischer Seite der Grenze, die ungefiltert zu sehen ist, wird quasi ihrer (sub)kulturellen Verballhornung auf der amerikanischen Seite gegenübergestellt, die kommerziellen Interessen nacheifert. Die doppelte Perspektive entlarvt so manche Absurdität und Geschmacklosigkeit, hat aber den Nachteil, dass man sich als Zuschauer buchstäblich hin- und hergerissen fühlt.



*** Out in Ost-Berlin - Lesben und Schwule in der DDR, DOK
von Jochen Hick (Deutschland), 93 min, Deutsch/Englisch - WP

Keine Fortsetzung, aber eine Ergänzung des Films Unter Männern – Schwul in der DDR von Ringo Rösener und Markus Stein (PANORAMA 2012) in sehr ähnlicher Machart. Die ausgewählten Schicksale schwuler Männer, die ihre Neigungen in der DDR weitgehend zu verbergen trachteten und heute meist im Rentenalter sind, illustrieren beispielhaft den Zwiespalt, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der politische, aber auch soziale Konformität belohnt wurde. Zu den dreizehn ausgewählten Schicksalen zählen bei Hick überwiegend schwule Aktivisten aus der ehemaligen Ostberliner LGBT-Bewegung sowie einige Frauen aus einer lesbischen Aktionsgruppe aus dem Prenzlauer Berg. Das Gespräch eines mit unfairen Mitteln zur Stasi-Mitarbeit gedrängten Schwulen, der die Szene aushorchen sollte, macht die Perfidie der Behörden deutlich. Zu den Pluspunkten gehört außerdem die Einbettung von alten DDR-Nachrichtensendungen, die die historische Dimension verdeutlichen.



* La Piscina
von Carlos Machado Quintela (Kuba/Venezuela), 70 min, Spanisch; mit Raúl Capote, Mónica Molinet, Felipe García, Carlos Javier Martínez, Marcos Costa

Vier unterschiedlich behinderte Teenager und ihr Betreuer verbringen einen Sommertag in und an einem einsamen Freibad, das schon bessere Tage gesehen hat. Und das war es dann auch! "Mit einem hypnotisch bedächtigen Rhythmus im Stil Eric Rohmers", heißt es offiziell, wobei der Dialogumfang eher bei Aki Kaurismäki entlehnt ist. Stark: Darstellerin Mónica Molinet, ansonsten: mucho tranquillo!



** Reaching for the moon - WP
von Bruno Barreto (Brasilien), 116 min, Engl./Portugiesisch; mit Miranda Otto, Gloria Pires, Tracy Middendorf

Biografie der New Yorker Lyrikerin Elizabeth Bishop, die sich beim Besuch einer Studienfreundin 1951 in Rio de Janeiro ausgerechnet in deren Lebenspartnerin, die Architektin Lota de Macedo, verliebt. Die schüchterne und lebensuntüchtige Nordamerikanerin blüht an der Seite der selbstbewussten und zielstrebigen Brasilianerin auf, gewinnt als Dichterin auch in der Ferne Anerkennung und Zuspruch. Doch je mehr sich Bishop in Brasilien etabliert, desto fragiler wird die Partnerschaft mit Lota, die zunehmend von Eifersucht und Neid geprägt ist. Ein überzeugend gespieltes, aber arg konventionell erzähltes lesbisches Melodram. Die aseptische und übereindeutige Bebilderung unterfordert die Zuschauer und lässt die beabsichtigte Emotionalität weitgehend verpuffen. Visuelle Metaphern werden ausgiebig genutzt, während die Zerrissenheit der Figuren eher harmlos wirkt.



*** Rock The Casbah
von Yariv Horowitz (Israel), 93 min, Hebräisch/Arabisch; mit Yon Tumarkin, Roy Nik, Yotam Ishay, Rave Iftach, Khawla Alhaj Debsi

Authentisch (autobiografisch?) schildert der Film die bedrückenden Erlebnisse einer Kompanie junger israelischer Soldaten, die im Frühsommer 1989 ihren Dienst im besetzten Gaza-Streifen antritt und prompt in gewalttätige Situationen gerät, was dazu führt, dass eine Gruppe von ihnen auf dem Dach eines Wohnhauses tagelang Wache schieben muss. Die Handlung wird aus Sicht des intellektuellen und sensiblen Tomer geschildert, der feststellen muss, dass die Sinnlosigkeit bewaffneter Aktionen mitten in einem dicht besiedelten Gebiet zu einer endlosen Spirale aus Aggression und Rache führt, die die Betroffenen entweder halb wahnsinnig, gefühllos oder tot zurück lässt. Intensiv vermittelt der Regisseur eine Atmosphäre zwischen nervöser Anspannung, Angst und Frustabbau, wobei er deutlich die unberechtigte und oft ungerechte Vorgehensweise der israelischen Armee in den besetzten Gebieten zeigt.



*** Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter, DOK
von Sandra Prechtel (Deutschland), 80 min, Deutsch/Englisch – WP; mit Roland Klick, Otto Sander, Eva Mattes, David Hess, Hark Bohm

Verdiente Würdigung eines des talentiertesten deutschen Autorenfilmers der Nachkriegszeit und seiner turbulenten Karriere, die er nach einer Reihe selbst- wie fremdverschuldeter Enttäuschungen Mitte der achtziger Jahre beendete. Schmerzhaft macht das aufschlussreich aus Filmausschnitten, alten und neuen Interviews zusammengefügte Porträt deutlich, wie wenig die hochpolitisierte Filmbranche der sechziger und siebziger Jahre einem der ihren zu schätzen oder gar zu unterstützen wusste, der wie kaum ein Zweiter die unsinnige Trennung zwischen Kunst und Kommerz hätte aufheben können. Nicht zuletzt, da sich Klick in den Interviews so unterhaltsam und blitzgescheit präsentiert wie auch seine Filme (Bübchen, Deadlock, Supermarkt), ist das Porträt eine aufschlussreiche Lektion über deutsche Filmgeschichte.



** Sing me the Songs that Say I Love You - A Concert for Kate McGarrigle - DOK
von Lian Lunson (USA), 107 min, Englisch; mit Rufus Wainwright, Martha Wainwright, Emmylou Harris, Norah Jones u.a.

Im Mai 2011 ehrten Rufus und Martha Wainwright zusammen mit anderen Künstlern im New Yorker Town Hall Theatre mit einem Konzert ihre Mutter, die einflussreiche kanadische Sängerin und Songwriterin Kate McGarrigle, die ein Jahr zuvor mit 63 Jahren an Krebs gestorben war. Ein Genuss für Folkrock-Fans.



*** Something in the way (WP)
von Teddy Soeriaatmadja (Indonesien), 89 min, Indonesisch; mit Reza Rahadian, Ratu Felisha, Verdi Solaiman

Ein körperliche Nähe fürchtender junger Taxifahrer beobachtet mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination die Prostituierten und ihre Freier, die er nachts durch die indonesische Hauptstadt Jakarta chauffiert. Sein moralischer Zweispalt äußert sich in exzessivem Pornokonsum einerseits und regelmäßigem Besuch einer islamistisch ausgerichteten Moschee andererseits. Durchaus originelle, mit einem Hetzprediger als Katalysator angereicherte Taxi-Driver-Variante, der aber etwas mehr Tempo und Ironie gut getan hätten. Das behutsame Spiel des Hauptdarstellers lässt die Verlorenheit moderner Großstadtexistenzen in so genannten Schwellenländern spürbar werden.



** State 194, DOK
von Dan Setton (USA/ Israel), 98 min, Englisch/Hebräisch/Arabisch; mit Yoram Millo, Daniel J. Chalfen, Ariel Setton, Margaret Yen

Rasant montierte Doku über die Bemühungen der palästinensischen Autonomiebehörde, trotz schleppender Friedensverhandlungen mit der israelischen Seite von den Vereinten Nationen als 194. Staat anerkannt zu werden. Anders als alle anderen Filme über den Nahostkonflikt im Panorama und Forum müht sich dieser Film, trotz aller Probleme auch Zuversicht und Hoffnung zu verbreiten – hauptsächlich, indem die Filmemacher gutwillige, geduldige Diplomaten und Friedensaktivisten interviewen und Hardliner und Extremisten (z.B. von der Hamas in Gaza) außen vor lassen. Das ist zwar erholsam und legitim, doch die allzu starke Parteinahme für die Person des palästinensischen Premierministers Salam Fayyad und sein ambitioniertes Vorgehen zum Aufbau funktionierender Staatsorgane verpassen dem Film eine Schlagseite. Fayyads Bemühungen in allen Ehren – aber von den jungen Bloggern in Palästina und den israelischen Aktivisten hätte man gerne noch mehr erfahren.



*** TPB AFK: The Pirate Bay Away From Keyboard – WP
von Simon Klose (Schweden), 85 min, Schwedisch/Englisch

Drei jungen Männer werden durch die Zeit begleitet, in denen sie sich vor Gericht verantworten müssen (inklusive Ausschnitte aus dem Justizprozess), nachdem Lizenzinhaber und Entertainment-Konzerne sie wegen ihrer Website Pirate Bay verklagt hatten, auf der große Datenmengen, darunter ganze Filme, zwischen den Nutzern ausgetauscht werden konnten. Die drei Schweden sind Teil einer Gruppe, die als Begründer der um maximale Freiheiten im Internet kämpfenden Piraten-Bewegung gelten. Die Protagonisten erfüllen etliche Klischees über IT-Nerds: Sie agieren in einer kuriosen Mischung aus Selbstüberschätzung (des eigenen Einflusses auf das Weltgeschehen via Web-Technologie) und Naivität (gegenüber politischen und juristischen Machtverhältnissen). Von den Ereignissen, die sie selbst ausgelöst haben, wurden sie überrollt und mental und physisch überfordert. Neben vielen interessanten Einzelaspekten besticht der Film als Zeitdokument über die Initiation eines kulturpolitischen Aufbruchs, der nicht trotz, sondern gerade wegen seiner teils unseriöser Methoden und vager Konturen folgenreich wirkte. (Der Film ist nach der Berlinale kostenfrei im Internet zu sehen!)



*** Upstream Color
von Shane Carruth (USA), 96 min, DCP, Englisch; mit Amy Seimetz, Shane Carruth, Andrew Sensenig, Thiago Martins, Kathy Carruth

Eine mit Maden gefütterte Frau verfällt in einen willenlosen, drogenbenebelten Zustand, was für ihre junge Beziehung eine harte Belastungsprobe darstellt, bis das Paar gemeinsam herausfindet, dass bereits eine Vielzahl anderer Personen den Experimenten eines Schweinezüchters und Hobby-Geräuschesammlers zum Opfer gefallen sind, der sich von den wie in Hypnose versetzten Menschen Geld überweisen lässt. Diese Inhaltsangabe ist im Grunde untauglich, den mit Symbolen und surrealen Bildern gesättigten, auf eine lineare Erzählung verzichtenden, durchgängig auf Parallelmontagen basierenden Film adäquat zu beschreiben. Angesichts der vielen erzählerischen Ellipsen und des Rhythmus von Schnittpartikeln zeugt es von höchster visionärer Kraft, überhaupt so etwas wie eine Geschichte mit konturierten Charakteren durchscheinen zu lassen. Wer sich auf die experimentelle Struktur einlässt, darf spekulieren, ob dies ein Kommentar auf das Verhältnis zwischen Natur und Menschen ist. Oder eher eine Zeitreise durch eine Zweierbeziehung. Oder gar eine Abrechnung mit ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen oder...



**** Workers
von José Luis Valle González (Mexiko/Deutschland), 120 min, Spanisch – WP; mit Susana Salazar, Jesús Padilla

Kann heutzutage nur noch die Strategie subtiler Nadelstiche anstelle des organisierten Protestes helfen, die Rechte von Arbeitern und Angestellten durchzusetzen? Zwei parallel erzählte Geschichten suggerieren dies: In der einen wird der duldsame Rafael, der seit 30 Jahren in einer Glühbirnenfabrik Reinigungsdienste versieht, vom Firmenchef ausgebeutet, weil er sich offiziell noch immer illegal in Mexiko aufhält. Doch Rafael beweist genauso viel Geduld und Zielstrebigkeit bei der Durchsetzung seiner Ansprüche wie beim Erlernen des Lesens und Schreibens. In der anderen Geschichte muss die Haushälterin Lidia ihre Skrupel beiseiteschieben, damit sie und die sechs weiteren Hausangestellten in den Genuss des Vermögens ihrer reichen Arbeitgeberin gelangen, die ihr Leben ihrem Hund widmet. Die sozialkritische Aussage des Films entwickelt sich in langsamen, bedächtig inszenierten Szenen mit sparsamen Handlungen und Dialogen, die der Zuschauer selbst weiterdenken oder ergänzen darf. Belohnt wird er mit einer hintersinnigen, schwarzhumorigen Fabel.



Workers mit Jesús Padilla - Foto (C) Berlinale


Max-Peter Heyne / Gabriele Leidloff - 7. Februar 2013
ID 6543

Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinale.de


Post an Max-Peter Heyne

Post an Gabriele Leidloff



 

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