Aferim! von Radu Jude
Vergine Giurata von Laura Bispuri
Mina Walking von Yosef Baraki
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Afirim (RO/BG/CZ)
Schwarz-weiß ist die karge Landschaft, schwarz-weiß ist auch das Denken der in ihr umherirrenden Protagonisten des im Stile eines Balkan-Western gedrehten rumänischen Wettbewerbsbeitrags von Regisseur Radu Jude. Er entführt uns in eine vermeintlich längst vergangene Zeit des Donaufürstentums Walachei, in dem 1835 die Angehörigen der Roma-Minderheit noch als Arbeitssklaven gehalten wurden und auf Gedeih und Verderb ihren ländlichen Herren, den Bojaren und der Kirche, ausgeliefert waren. Einem dieser mittelalterlich absolutistischen Exemplare ist der Rom Carfin (Cuzin Toma) davongelaufen. Er hat mit der Frau des Bojaren geschlafen und fürchtet nun dessen gnadenlose Rache. Das erfährt man erst etwas später. Zunächst sieht man nur zwei schwatzende Gestalten auf Pferden, die sich auf die Suche nach der entflohenen „Krähe“ gemacht haben.
Der Gendarmenhauptmann Constandin (Teodor Corban) und sein Sohn Ionita (Mihai Comanoiu) philosophieren in langen Kameraeinstellungen über Gott und die Welt, wie sie ist. Der junge Möchtegern-Haudrauf, noch etwas ungelenk, will seinem Vater nacheifern. Der Alte prahlt nur von früher, als er noch ein schlimmer Finger war, hat aber schon das Reißen in den Knochen und das Brennen im Schwanz. Den baldigen Tod vor Augen gilt seine einzige Sorge dem Sohn, der von der Mutter etwas zu sehr verzärtelt wurde. Der berittene walachische Pegida-Stammtisch begegnet auf seiner Reise durch das osmanisch beherrschte Gebiet, was außerdem noch vom bösen Russen bedroht ist, in einem Kloster unterjochte und am Fluss frei goldwaschende Roma, konkurrierende, korrupte Bezirkspolizisten und betrügt nebenbei arme Bauern und Fischer. Constandin schickt noch einen dummen, türkischen Handlungsreisenden in die Irre, bevor sie den Flüchtigen dingfest machen und mit einem kleinen Roma-Jungen über die Sättel werfen. Das greinende „Krähenküken“ wird auf dem Sklavenmarkt zur Aufbesserung der Reisekasse einfach an den erstbesten Popen verhökert.
Radu Jude inszeniert das alles sehr ironisch mit einem guten Schuss Zynismus. Man braucht eigentlich keine weiteren Erklärungen und Figurenentwicklungen, hat man im Grunde doch alles, was man wissen muss, ständig direkt vor der Nase. Letzte Gewissheit gibt es bei einer ordentlichen Hasspredigt eines Pfaffen vom gerade reparierten Eselskarren herunter. Hier erfährt man nun auch den Unterschied vom noch zu den Menschen gerechneten „Zigeuner“ zum bösen „Riesenjuden“. Und für jede Nation hat der Priester ein schönes Vorurteil parat, nur der Rumäne leidet still. Und sind es nicht die Juden oder die Zigeuner, dann sind es die Sodomisten und die Frauen. Aferim! Der aus dem Türkischen stammende Ausruf bedeutet so viel wie Bravo, gut gesprochen. Der Film könnte im Untertitel auch „Wie die Dummheit in die Welt kam“ heißen. Das kann man sich natürlich gar nicht alles ausdenken. Im Abspann gibt es eine lange Liste von Quellen. Der Regisseur hat dem Volk und seinen Führern aufs Maul geschaut.
Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass der Bojar zum Ende hin seine verletzte Mannesehre blutig wieder herstellt, umringt von einer johlenden Meute. Da ist selbst der hartgesottene Constandin etwas konsterniert. Seinem lernbegierigen Filius kann er da nur mit auf den Weg geben, es sich nicht so zu Herzen zu nehmen. Die Welt bleibt so, wie sie ist. „Gott schützt jeden Wurm. Nur wir können nicht aufeinander aufpassen.“ Bravo! Zu diesen Film kann man Radu Jude nur beglückwünschen. Er bewegt sich hier durchaus auch stilistisch in den Fußstapfen des vor einigen Jahren zurückgetretenen Ungarn Béla Tarr, wenn auch mit einem etwas schwärzeren Humor, bei dem einem das anfängliche Lachen erst nach und nach im Halse stecken bleibt. Auch Radu Jude arbeitet mit versteckter Symbolik, wenn er schon zu Beginn in langer Einstellung eine Distel zeigt. Ein Zeichen des christlichen Leids, aber auch für heidnische Wehrhaftigkeit. Es muss nicht immer der stark reduzierte Gegenwartsrealismus von Cristian Mungiu sein, um etwas über das dunkle Wesen des modernen Menschen zu erfahren. Die meisten Geister und Ängste kommen direkt aus der Vergangenheit.
Vergine giurata (I/CH/D/AL/RKS 2015)
Die italienische Regisseurin Laura Bisputi erzählt in ihrem Debutfilm die Geschichte von Hana (Alba Rohrwacher), die nach dem Tod der Eltern bei Pflegeeltern in den nordalbanischen Bergen aufwächst. Während sich ihre Stiefschwester Lila (Flonja Kodheli) der Zwangsverheiratung durch Flucht entzieht, wählt die schon früh von einem unbändigen Freiheitsdrang geprägte Hana einen anderen Weg. Um die gleichen Rechte wie die alles beherrschenden Männer zu erlangen - auch weil sie ihren Ziehvater und die heimatlichen Berge liebt - , legt sie das Gelübde ab, aller körperlichen Liebe zu entsagen. Sie darf nun ausgestattet mit den nötigen Attributen wie Kleidung und Gewehr als Mann Mark in der Gemeinschaft weiterleben. Eine Tatsache, die traditionell in den Gewohnheitsrechten der albanischen Bergbevölkerung verankert ist.
Die gelebte Verleugnung des eigenen Geschlechts hält jedoch nicht dauernd an. Nach einigen Jahren fährt Mark zur Stiefschwester, die nun mit ihrer Familie in Mailand lebt. Das Ziel dieser späten Flucht ist zunächst nicht ganz klar. Lange kreist der Film um seine Protagonisten, ihr gegenseitiges Ausweichen und die schüchternen Wiederannährungsversuche von Mark an sein ursprüngliches Geschlecht. Über Lilas Tochter, die ihren „Onkel“ erst für etwas merkwürdig oder gar eine als Mann verkleidete Lesbe hält, erhält Mark dann schließlich eine Möglichkeit sich zu finden. Das Mädchen (Emily Ferratello) ist im Wasserballett, und über den freien Blick im Schwimmbad sieht Mark nun zum ersten Mal die Vielfalt von Körperlichkeit. Fast wie eine Art Erweckungserlebnis oder auch zweite Pubertät.
Hier hat dann der Berliner Schaubühnenstar Lars Eidinger seinen Auftritt als italienischer Bademeister und erstes Objekt des erwachenden sexuellen Interesses, der nach neuer Freiheit suchenden Frau. Die Häutung samt Überstreifen neuer Bekleidungs-Accessoires vollzieht sich aber recht gemächlich. So einfach lässt sich eine alte, als nicht mehr passend empfundene Haut dann doch nicht abstreifen. Und auch die sich einst innig liebenden Geschwister finden erst langsam wieder zueinander. Die Geschichte der beiden Mädchen in der rauen Bergwelt wird in mehreren Rückblenden erzählt. Der ruhige Film von Laura Bispuri hat auch keine klare Lösung parat. Außer der vielleicht, dass Freiheit, wie Hana am Ende meint, auch bedeuten kann, mal nicht irgendetwas sein zu müssen. Das ist dann auch eine irgendwie beruhigende Antwort auf die oft nicht ganz einfache Genderfrage.
Mina Walking (CDN/AF 2015)
Ein weiteres eindrucksvolles Frauenschicksal erzählt der afghanische Regisseur Yosef Baraki in seinem im kleinen Wettbewerb der Reihe „Generation 14plus“ laufenden Film Mina Walking. Dabei ist Mina (Farzana Nawabi) ein erst 12jähriges Mädchen aus Kabul, das aber bereits die Familie im Alleingang ernähren muss. Ihre Mutter wurde einst von den Taliban getötet. Der Großvater ist senil und träumt nur noch vom Geldverdienen. Mina muss ihn mit einem Strick anbinden, damit er nicht davonläuft. Die Hauspforte besitzt kein Schloss, da der Hausherr, Minas Vater, das Geld und die Medikamente des Großvaters für Heroin ausgibt. Wenn das Mädchen nicht auf dem Markt Ramschware verkauft, dann geht es in die Schule, wo meist nur der Koran gelehrt wird. Es stehen gerade Präsidentenwahlen an und die junge Lehrerin schwört auf die neue Demokratie, wogegen Mina ganz andere Probleme hat.
Als der Großvater stirbt und der Vater mal wieder seinen Drogenrausch ausschläft, muss sie sich ganz allein mit den Nachbarn um das traditionell islamische Begräbnis kümmern. Doch Mina lässt sich nicht unterkriegen. Um den Vater von den Drogen fernzuhalten, greift sie auch zu recht drastischen Mitteln. Allein es hilft alles nichts. Einer Zwangsheirat entkommt das Mädchen nur durch die Flucht ausgerechnet im Gewand einer Burka. Mina verkauft ihre einziges Habe, eine alte russische Nähmaschine, und macht sich auf den Weg in eine ungewisse Freiheit. Der Film erzählt in ruhigen fast dokumentarischen, mit der Handkamera gedrehten Bildern vom harten Leben der Kabuler Kinder. Es ist mal nicht der Blick des waffenstrotzenden oder mitleidigen Europäers, hier sieht man ein selbstbewusstes Mädchen, das sich beharrlich durchzuschlagen weiß, aber an den traditionellen und den neuen Marktgesetzen zu scheitern droht. Mit der großartig spielenden jungen Farzana Nawabi besitzt der Film ein eindrückliches Gesicht, das einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf geht.
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Stefan Bock - 14. Februar 2015 ID 8435
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de
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