PANORAMA
Kurzkritiken
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Bones of Contention
Von Andrea Weiss, USA 2017, Spanisch, Englisch, Dokumentarische Form, 75 Min · Farbe & Schwarz-Weiß
Kilometerlang säumen ungekennzeichnete Massengräber Spaniens Landstraßen, in denen über 120.000 Opfer des Franco-Regimes verschüttet liegen. Unter ihnen ist auch der weltberühmte spanische Schriftsteller Federico García Lorca, der in den ersten Tagen des Spanischen Bürgerkriegs von Faschisten erschossen wurde. Das Rätsel um den Verbleib seiner sterblichen Überreste macht ihn zur Symbolfigur im Bemühen um das Erinnern und Aufdecken verborgener Schicksale unter Franco, die weit über das Ende der Diktatur hinaus gewaltsamen Repressionen ausgesetzt waren. Spanien, das heute im Umgang mit Homosexualität zu den fortschrittlichsten Ländern gehört, verweigert nach wie vor eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung seiner dunklen Vergangenheit.
Die Schreckensherrschaft und das mörderische Regime der Franco-Diktatur hat sich in Europa bisher am längsten unter Verschluss gehalten. In der Persönlichkeit Lorcas konzentriert sich die seismografische Architektur. Sie wirkt als Facette und blättert auf: Unter Vorbehalt sind die Interviews mahnend und rückhaltlos aufklärend. Dieser Film gibt somit für das Spanien der 30er bis Mitte der 70er Jahre fast unfreiwillig auch die Historie der katholischen Kirche preis, deren Personal über das Leben bestimmt. Andrea Weiss gräbt mit Bones of Contention in mehrfacher Hinsicht Vergangenheiten aus, um der Zukunft eine Perspektive zu verleihen. | GL
Casting JonBenet
Von Kitty Green, USA/Australien 2017, Englisch, Dokumentarische Form, 81 Min · Farbe
Der ungeklärte Tod der sechsjährigen Schönheitskönigin JonBenet Ramsey bewegt seit 20 Jahren die amerikanische Öffentlichkeit. Unter dem Vorwand, geeignete Darsteller für einen geplanten Spielfilm über den rätselhaften Fall finden zu wollen, lädt Kitty Green alle ein, die in deren Heimatort in Colorado Kontakt zur Familie Ramsey hatten. In den Probeaufnahmen offenbaren die unterschiedlichen ProtagonistenInnen ihre Version der Wahrheit, die im Verlauf des Films zunehmend komplexer wird.
Der Film spannt sehr puristisch seine Darsteller ein. In kunst- und humorvollem Rollenspiel sind die Statements zum Fall hinterfragt, und über die Ausdruckskraft der Gecasteten mit ihrer jeweils persönlichen Beziehung zum Ereignis entspinnt sich eine vielschichtige Aufsicht. Voyeuristen haben keine Chance. Die Regisseurin Kitty Green verzichtet auf dokumentarisches Archivmaterial, und so gelingt es, ein Spektrum der Möglichkeiten aufzuzeigen, das den Mentalitäten und provinziellen Verhältnissen Raum und einen aktuellen Blickwinkel zur Verfügung stellt. | GL
Discreet
Von Travis Mathews, USA 2017, Englisch, 80 Min · Farbe
Die elliptisch montierte Geschichte, die um einen nicht mehr ganz jungen Mann kreist, ist mit einem unheimlichen Soundteppich unterlegt: Der Filmemacher Alex lebt in einem Van und stellt seine Kamera in ländlichen Regionen der USA im Niemandsland an den Highways auf. Als er seine ehemals alkoholabhängige Mutter besucht, erfährt er von ihr ein gut gehütetes Geheimnis. Und es gibt einen kleinen Jungen, zu dem Alex eine unerwartet intensive Beziehung aufbaut.
Ein getarnter homosexueller Psychothriller, den der Regisseur Travis Mathews in das Genre Roadmovie aufgeladen und prätentiös verschneidet. Sehr amerikanisch hoffnungslos. | GL
Ghost in the Mountains
Von Yang Heng, Volksrepublik China 2017, Mandarin, 136 Min · Farbe
Eine gottverlassene Gegend im chinesischen Bergland. An einem Hang wird ein erschlagener Mann gefunden. Es ist die Heimat von Lao Liu, in die er nach Jahren zurückkehrt. Er besucht das Grab eines verunglückten Freundes, teilt mit dessen Schwester Erinnerungen an die unbeschwerte Zeit, bevor er sie verließ, und begegnet A Jie wieder, der in kriminelle Geschäfte verwickelt ist und davon träumt, einmal das Meer zu sehen. Kaum jemanden hält es hier. Die jüngere Generation ist in die Großstädte gezogen, um sich durch Heirat oder Fabrikarbeit abzusichern.
Liebe chinesische Autorenfilmer: Es ist ja nichts Verwerfliches, wenn ihr versucht, den europäischen Kollegen nachzueifern, die sich gegen den Zeitgeist einer möglichst knalligen Inszenierung sperren. Aber bitte, bitte wiederholt dabei nicht dieselben Fehler, die Geschichten möglichst zäh und gaaaanz laaaangsam zu erzählen, damit auch der taubblindeste Ignorant in der letzten Reihe mitbekommt, dass es sich um Kunst handelt. In jedem einzelnen Bild kontemplative, buddhistische Ruhe zu verströmen, mag für den, der freiwillig im Kino gerne chillt, eine erholsame Sache sein. Aber für alle, die erwarten, dass neben traurigen Typen in großartigen Landschaften auch mal etwas Substanzielles rüberkommt, ist es eine Zumutung. | MPH
Hostages
Von Rezo Gigineishvili, Russische Föderation/Georgien/Polen 2017, Georgisch, Russisch, 103 Min · Farbe
Die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik, 1983: Grenzsoldaten haben junge Georgier im Auge, die ausgelassen im Schwarzen Meer baden. Sie rauchen West-Zigaretten, hören die Beatles und suchen im Berufsleben Unabhängigkeit vom Überwachungsstaat und von ihren Elternhäusern. Unter ihnen sind Ärzte, Schauspieler, ein Anwärter auf das orthodoxe Priesteramt sowie Anna und Nika, die bald heiraten werden. Mit ihren Gedanken sind sie alle ganz woanders: Nach dem Hochzeitsfest werden sie in Tiflis eine Linienmaschine besteigen, um diese auf dem Flug nach Leningrad mit Waffengewalt zur Landung in der Türkei zu zwingen. Ihre stürmische Sehnsucht nach Freiheit und eine unglückliche Verkettung unvorhersehbarer Ereignisse führen zu einer nationalen Tragödie.
In der Jugend ist jeder energetisch, so auch die Hijacker, die planlos mit Champagner und Pistolen nach der Hochzeitsfeier in die Freiheit fliegen wollten. Das war das Lebensende fast aller Protagonisten vor der Wende zur Autonomie ohne Grenzen. Verscharrt bis heute, erinnert dieser Film überzeugend besetzt und dargestellt an die politisch dramatischen Ereignisse und führt uns zurück in das Selbstverständnis dieser Zeit. | GL
I Am Not Your Negro
Von Raoul Peck, Frankreich/USA/Belgien/Schweiz 2016, Englisch, Dokumentarische Form, 93 Min · Schwarz-Weiß & Farbe
Im Juni 1979 beginnt der bedeutende US-Autor James Baldwin seinen letzten, unvollendet gebliebenen Text Remember This House. Mit persönlichen Erinnerungen an seine drei ermordeten Bürgerrechtler-Freunde Malcolm X, Medgar Evers und Martin Luther King und Reflexionen der eigenen, schmerzhaften Lebenserfahrung als Schwarzer schreibt er die Geschichte Amerikas neu. Raoul Peck inszeniert die 30 bislang unveröffentlichten Manuskriptseiten mit einer fulminanten Collage von Archivfotos, Filmausschnitten und Nachrichten-Clips.
Raoul Peck ist zurzeit einer der besten Regisseure. Ob Spiel- oder Dokumentarfilm: Er zeigt seine Thematik intelligent, komplex und ästhetisch einzigartig. Für I Am Not Your Negro gelingt es Peck, die Gedanken James Baldwins faktenbasiert und direkt, poetisch und ironisch über eine zeitspezifische Collage aufzufächern, die auch die schwelenden Konflikte der USA in den aktuellen Fokus rückt. | GL
Istiyad Ashbah – Ghost Hunting
Von Raed Andoni, Frankreich/Palästina/Schweiz/Katar 2017, Arabisch, Englisch, Dokumentarische Form, 94 Min · Farbe
In Ramallah sucht Regisseur Raed Andoni per Zeitungsanzeige ehemalige palästinensische Insassen des Moskobiya-Verhörzentrums in Jerusalem, die zudem Erfahrung als Handwerker, Architekten oder Schauspieler haben. Nach dem Casting, das fast wie ein Rollenspiel wirkt, lässt er in einer leeren Halle Verhörräume und Zellen der Gefangenen maßstabsgetreu nachbauen – immer in enger Abstimmung mit den Männern und basierend auf ihren Erinnerungen an den Ort. In dem realistisch anmutenden Setting spielen sie zusammen Verhörsituationen nach, diskutieren Details der Einrichtung und sprechen über die Erniedrigungen, die sie während der Haft erlebt haben.
Diese Nachstellung lässt Szenarios aus dem Leben der Protagonisten mit den Erfahrungen ihrer Gefangenschaft ineinandergreifen. Der Regisseur Raed Andoni ist selbst im Spiel und zieht noch eine weitere Ebene ein. Indem er die Entstehung des Sets und der Proben im authentischen Ablauf begleitet, bauen die Charaktere buchstäblich den Film zusammen. Nur durch ihre Persönlichkeit ist eine politische Dimension über die beispielhaften Schicksale erfahrbar. Mit der innovativen Filmsprache wird ein Modell erschaffen, das Gegebenheiten aufzeigt ohne zu polarisieren. | GL
Kaygı – Inflame
Von Ceylan Özgün Özçelik, Türkei 2017, Türkisch, 94 Min · Farbe
Hasret arbeitet bei einem türkischen Nachrichtensender mit dem anspruchsvollen Leitsatz: „Was Sie sehen, ist die Wahrheit. Was Sie hören, ist die Wahrheit.“ Doch plötzlich beginnen sich die Dinge zu ändern. Redakteure werden angehalten, die Reden von Politikern nicht mehr zu kommentieren. Nachrichten werden manipuliert, und die Nutzung sozialer Netzwerke auf firmeneigenen Computern wird verboten. Hasret wird von ihrer anmaßenden Chefin gemobbt und verliert ihren Job als eigenverantwortliche Cutterin.
Mit subjektiver Kamera verführt die Regisseurin den Betrachter über ihre Darstellerin spiegelbildlich zur Kulturpolitik der Türkei in ein Psychogramm. Die traumatisierte Cutterin folgt ihrer Intuition und kommt in Reflektion der Vergangenheit und aktueller Nachrichten der Wahrheit auf die Spur. Ein etwas manierierter aber gelungener Versuch, die Machtstrukturen des Landes auf ein Ereignis herunter zu brechen. | GL
One Thousend Ropes
Von Tusi Tamasese, Neuseeland 2017, Samoanisch, 98 Min · Farbe
Unter dem Zitronenbaum vergräbt ein alter Mann eine Plazenta. Später sieht man seine kräftige Hand eine Zitrone auf dem Tisch hin- und herrollen, mit leichtem Druck, als ob er sie massiert: Maea arbeitet neben seinem Job als Bäcker noch als Geburtshelfer, wozu auch die fachkundige Bauchmassage bei den Frauen gehört. Bei ihm zu Hause künden helle Flecken an der Wand von abgehängten Bildern – von seiner Familie hat Maea sich nach einem traumatischen Gewaltausbruch entfernt. Doch dann taucht seine Tochter Ilisa bei ihm auf. Sie ist schwanger und wurde von ihrem Freund misshandelt. Außerdem will der Geist einer Frau, der immer wieder in Maeas Wohnzimmerecke sitzt, plötzlich nicht zurück in sein Grab auf dem Friedhof.
Hoppla – die Story vom gescheiterten Familienvater, der in seiner Maori-Community nun als Bäcker und Schwangerenmasseur bewährt, aber seine eigenen und die bösen Geister vom Friedhof nebenan nicht ohne Weiteres loswerden kann, ist mal wirklich eine außerordentlich originelle Idee, die zudem auch auf sehr interessante Weise erzählt wird: Andeutungsreich-assoziativ, voller Symbole und Metaphern, verwickelt und in Schlangenlinien. Aber dank der sich wiederholenden Hauptmotive, einer suggestiven Kameraarbeit und starker Darsteller geht die Orientierung und das Sehvergnügen nicht verloren. Dazu noch die Prise Exotik vom anderen Ende der Welt – stark! | MPH
El Pacto de Adriana – Adriana's Pact
Von Lissette Orozco, Chile 2017, Spanisch, Englisch, Dokumentarische Form, 96 Min · Farbe
Adriana war die Lieblingstante der Regisseurin, eine selbstbewusste Frau. Bei einem Familienbesuch in Chile 2007 wird sie überraschend verhaftet, weil sie während der Diktatur für Pinochets berüchtigte Geheimpolizei DINA gearbeitet haben soll. Die Tante bestreitet die Vorwürfe. Ihre Nichte recherchiert Adrianas Geschichte und beginnt mit den Dreharbeiten. Während die Nachforschungen immer größere Kreise ziehen, flieht die Tante 2011 vor einem Prozess.
Adriana Rivas war die Assistentin von Manuel Contreras, Direktor der DINA von 1973-1990. Sie lebt in Australien und gibt an, von dem Verschwinden der getöteten Oppositionellen nichts gewusst zu haben und im gleichzeitigen Wortlaut, dass Menschen ohne Folter nicht zu brechen sind. Ein Auslieferungsantrag von Chile wurde gestellt. Spannungsreich im Aufbau spiegelt dieser Debutfilm eine ehrliche moralische Zerrissenheit. Es ist wieder die Biografie einer Täterin, die somnambul in ein Leben flüchtet, um die Gegenwart ertragen zu können. Mit den Dreharbeiten plant sie ihre letzte Rettung. Die eigene Familie ist leicht zu instrumentalisieren und so gelingt es Adriana Rivas, sie über weite Strecken zu blenden. Beharrlich recherchiert die Regisseurin Lissette Orozco und reflektiert auch ihr eigenes Leben in Bezug auf die Vergangenheit. Bemerkenswert emotional direkt setzt sie das Terrorregime der Pinochet-Ära in der Kommunikation mit Rivas in Szene. | GL
Pieles
Von Eduardo Casanova, Spanien 2017, Spanisch, 77 Min · Farbe
In der streng symmetrisch kadrierten, rosa und lila ausgestatteten Welt des Regisseurs Eduardo Casanova geht es um die „Deformierten“, zu denen auch Dicke, Kleine oder eine Frau ohne Augen, die als Sexarbeiterin arbeitet, zählen. Das episodische Langfilmdebüt des Spaniers ist eine Weiterentwicklung seiner vorherigen Kurzfilmarbeiten und beschäftigt sich in bewusst artifiziellen Bildern mit Menschen, denen in ihrem gesellschaftlichen Außenseitertum nur wenige geschützte Räume bleiben.
In seiner Anhäufung grotesker Figuren und Geschmacklosigkeiten ist dies sicherlich einer der ungewöhnlichsten Filme, der je auf einer BERLINALE zu sehen war. Eine Frau trägt das Arschloch im Gesicht, ein werdender Vater sucht sich Kinder aus einem Pädophilenkatalog, eine Blinde lässt sich von einer stark adipösen Lesbe fisten, ein junger Mann verstümmelt sich freiwillig – wie auch weitere unverblümte Episoden aus dem bunten Tierreich des Herrn. Aber leider ist der vielversprechende Ansatz nicht überzeugend, denn siehe da: Eine Aneinanderreihung von betont kitschig inszenierten Tabubrüchen wirkt nicht aufregend oder verletzend. Die ätzende Wirkung der antibürgerlichen Attitüde im bonbonfarbenen Kleid verpufft, wenn zu hoch gestapelt wird – ähnlich wie bei Special Effects-Spektakeln à la Transformers. Die aseptischen, kühlen und gekünstelten Settings erlauben keine Anbindung der Bilder an die realen Verhältnisse, in denen sexuell und äußerlich "Andersartige" sehr wohl immer wieder um ihre individuellen Rechte kämpfen müssen. Konsequenter wäre es gewesen, die Freaks wären von Menschen gespielt worden, die tatsächlich eine Behinderung oder Besonderheit haben. So stellt sich anders als bei Almodovar bei aller Lust am Verbotenen doch tatsächlich nach einer Weile --- Langeweile ein! | MPH
Política, manual de instrucciones – Politics, instructions manual
Von Fernando León de Aranoa, Spanien 2016, Spanisch, Englisch, Dokumentarische Form, 120 Min · Farbe
Als Reaktion auf die Bankenkrise und Protest gegen den ungezügelten Neoliberalismus formierte sich 2011 in Spanien die Bürgerbewegung Movimiento 15M (Bewegung 15. Mai), aus der im Frühjahr 2014 die Partei Podemos hervorging, die bereits 2015 als drittstärkste Kraft ins Parlament einziehen konnte. Fernando León de Aranoa, als Spielfilmregisseur bereits mehrfach zu Gast im Panorama, begleitete den Weg der Partei als einer neuen Kraft in Spaniens traditionellem Zweiparteiensystem.
In seiner dichten Montage ohne Pause jagt der Regisseur seinem politischen Universitätspersonal ein Statement nach dem anderen ab, deren inhaltliche Substanz den wortgewaltigen Parforceritt in keiner Weise rechtfertigt. Auch wenn Spanisch eine angenehme Sprache ist, wäre diese Dokumentation sogar im Hörfunk strapaziös. Die bemerkenswerte Historie der Podemos-Bewegung kann man sich auf illustrere Weise aus dem Internet fischen. | GL
Revolution of Sound. Tangerine Dream
Von Margarete Kreuzer, Deutschland 2017, Deutsch, Englisch, Dokumentarische Form, 90 Min · Farbe
„Tangerine Dream ist Science-Fiction!“ Bandleader Edgar Froese, der 2015 70-jährig verstarb, erforschte mit seiner Band Tangerine Dream den Sound und dessen Wechselwirkung mit den Gefühlen. Der Film über eine der ersten Elektronikbands Deutschlands beginnt mit jungen Berliner Musikern, die der Beginn des „Space Age“ in den 1960er-Jahren samt Raketenstarts und Zukunftsvisionen genauso inspirierte wie der eigene Herzschlag, aus dem Froese Musik komponierte. Mit der Hilfe von Moogs und anderen Synthesizern revolutionierte er (in wechselnder Begleitung) das Genre der Pop- und Unterhaltungsmusik – er ging weit in die Klassik, in die Neue Musik, in die Filmmusik hinein, und erschuf statt klar strukturierter Songs lieber visualisierbare Stimmungen. Anhand von Amateuraufnahmen, Interviews mit Bandmitgliedern, Familienangehörigen, Freunden und Kollegen wie Jean-Michel Jarre, entsteht ein umfassendes Porträt eines künstlerischen Pioniers.
„Nach dem Tot ändert sich nur die kosmische Adresse.“ Edgar Froese zieht den Betrachter mit seiner Band Tangerine Dream in eine spannende Zeit. Revolution of Sound zeigt nicht nur eine Dokumentation der 70er-Umbruchjahre, sondern die Band ist auch Avantgarde für die Entstehung einer neuen Musik: Geräusche und Töne werden wahrgenommen und ihre Existenz improvisiert, kommuniziert und sequenziert. Immer interessiert, eine Beziehung zu sphärischen Ebenen umzusetzen, lebt Edgar Froese mit Tangerine Dream eine Metamorphose, an der Kreative weltweit partizipieren. Die Musiker dementsprechend erfolgreich und bis heute aktiv, bespielt dieser Film auch den Fokus einer intelligenten Intuition, die bescheiden und beständig auf Suche nach Energie zur Vollendung eines Lebenswerks geführt hat. | GL
Tahqiq fel djenna – Investigating Paradise
Von Merzak Allouache, Frankreich/Algerien 2017, Arabisch, Französisch, Dokumentarische Form, 135 Min · Schwarz-Weiß
Die junge algerische Journalistin Nedjma stellt Recherchen zum Bild vom Paradies im Islam an. Besonders interessiert sie sich für die plastischen Schilderungen des Paradieses, das salafistische Prediger entwerfen, um junge Männer in Algerien für den Dschihad anzuwerben. Zusammen mit ihrem Kollegen Mustapha findet sie verstörend blumig ausgeschmückte Videopredigten und entscheidet sich, das Phänomen genauer zu untersuchen.
Das Paradies setzt bei Regisseur Merzak Allouche keine Assoziationen frei. In Schwarz-Weiß schickt er seine Journalistin zu zahlreichen Interviews. Die jeweiligen Ansprechpartner verkünden bemerkenswert infantil eine gegenständliche Vorstellung des Jenseits. Nur wenige vermissen Spiritualität und die Frage, wie es zu der Prophezeiung für Selbstmordattentäter kommen konnte. Nach anstrengender Filmlänge gewinnt der Betrachter bildkarg und wortlastig einen Einblick in die algerischen Gesellschaftsverhältnisse. | GL
Tania Libre
Von Lynn Hershman Leeson, USA/Deutschland 2017, Englisch, Spanisch, Dokumentarische Form, 73 Min · Farbe
Dr. Frank Ochberg ist Psychiater und Traumaspezialist in New York. An ihn wendet sich die bekannte kubanische Künstlerin Tania Bruguera, nachdem sie in Kuba acht Monate als Dissidentin in Haft gesessen hat, angeklagt des Landesverrats für die Vorbereitung einer regierungskritischen Performance. Im Gespräch mit dem Therapeuten analysiert sie das revolutionäre Potenzial von Kunst und eine Zensurbehörde, die schon vor der eigentlichen Entstehung des Werks eingreift.
Um sich von der Schuld ihres Volkes reinzuwaschen, zeigt sich die Künstlerin Tania Bruguera bei einer ihrer Performance nackt. Dementsprechend ehrlich entwickelt sie im Dialog mit Dr. Frank Ochberg eine charmant resolute Rekonvaleszenz ihrer traumatischen Herkunft und kämpft für die Zukunft Kubas. Es ist der Medienkünstlerin Lynn Hershman Leeson zu verdanken, dass dieser Film dem Werk Brugueras entspricht. Kenntnisse über ein Land aus dieser Perspektive könnten kaum interessanter sein. | GL
Tiger Girl
Von Jakob Lass, Deutschland 2017, Deutsch, Englisch, 90 Min · Farbe
Bei der Polizei ist sie durchgefallen, daher macht Margarete eine Ausbildung beim Sicherheitsdienst. Auftritt Tiger: kurze braune Haare, tough, Kämpferin. Tiger wohnt auf einem Dachboden mit zwei Männern, sie weiß, wie man mit einem Baseballschläger umgeht. Sie klaut sich beim Sicherheitsdienst eine Uniform und lenkt das Leben von Margarete, die sie Vanilla tauft, radikal in andere Bahnen. Jakob Lass, der mit Love Steaks bereits Erfolge feierte, drehte nach den Regeln seines eigenen FOGMA-Manifests und ließ große Teile der Dialoge improvisieren.
Gutes (hellhäutig-blondes) Mädchen trifft böses (dunkles, widerborstiges) Mädchen, lässt sich zu Streichen und dann illegalem Handeln verführen und entdeckt ihre eigene böse Seite, mit der sie die vermeintlich Böse – die klammheimlich von einer weniger aussichtslosen Existenz träumt – noch übertrumpft und letztlich beide in Gefahr bringt. So weit, so gut – heißt: über weite Strecken authentisch und effektvoll sowie temporeich inszeniert und von jungen Schauspielern mitreißend gespielt. Doch leider reicht Lass‘ neue Regiearbeit nicht an die Love Steaks heran, denn dieser teils brachial erzählten Geschichte mangelt es an Charme und Abwechslung. Der Tonfall bleibt immer im Schnöseligen, zugleich aber Druckvollen und gewinnt (zu) wenig Balance. Denn zwischen den ständigen starken Sprüchen und der Hau-Drauf-Action bleibt wenig Platz für Humor oder Erzählstränge, die insbesondere den Hauptfiguren noch mehr Tiefe verleihen. Was merkwürdig ist, denn die beiden gegensätzlichen weiblichen Charaktere, die unverhofft Persönlichkeitsanteile der jeweils Anderen übernehmen, war eine gute Ausgangslage für ein Hin und Her. So bleibt es eher beim Hin. Trotzdem kurzweilige Unterhaltung mit Biss! | MPH
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Gabriele Leidloff (GL) / Max-Peter Heyne (MPH) - 10. Februar 2017 ID 9827
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinale.de
Post an Gabriele Leidloff
Post an Max-Peter Heyne
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