Die Bilanz
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Fangen wir mal mit dem Wetter an: das war nun wirklich perfekt! Ich kann mich in nunmehr 32 Jahren BERLINALE nicht erinnern, dass es einen Festivaljahrgang komplett ohne Niederschläge, Feuchtigkeit oder vereiste Wege gab. Die viele Wintersonne hat mich sogar dazu verleitet, nicht immer schon am frühen Morgen in den dunklen BERLINALE-Palast oder einen der anderen – meist überfüllten – Kinosäle zu stürmen. Heißt: Ausgerechnet den Gewinnerfilm Touch me not der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie (Debüt!) über die Grenzen der menschlichen Sexualität habe ich verpasst. Der experimentelle, ins Dokumentarische mäandernde Film über Sexualität bei Menschen mit großen physischen oder psychischen Handicaps fand im Gegensatz zu vielen anderen Beiträgen des diesjährigen Wettbewerbs nur geteilte Zustimmung. Ich nehme an, dass die sechsköpfige internationale Jury unter Vorsitz des deutschen Regisseurs Tom Tykwer sich gedacht hat, dass der Mut der Regisseurin, sich dieses Themas auf stilistisch ungewöhnliche Weise anzunehmen, den Goldenen Bären bekommen muss, wenn er denn bei den Rechtekäufern und Verleihern weltweit überhaupt eine Chance auf Beachtung bekommen soll. Macht Sinn.
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Touch me not | (C) Manekino Film, Rohfilm, Pink, Agitprop, Les Films de l'Etranger
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Die Silbernen Bären wurden offensichtlich aufgrund von Jury-Kompromissen unter den sehenswerten Kandidaten verteilt. Nach dem, was ich gesehen habe, durchaus gerecht, wenn auch nicht stimmig. Zwei Beispiele: Małgorzata Szumowska von der Filmhochschule Łódź, die sich seit Jahren schon am strengen polnischen Katholizismus abarbeitet und damit mehrfach auf der BERLINALE vertreten war, hat für ihre bissige "Dramödie" Twarz (Visage) einen Preis verdient – aber muss es gleich der Große Preis der Jury, also der zweite Platz sein? Szumowska erzählt von einem jungen Mann aus der polnischen Provinz nahe Świebodzin, unweit der deutsch-polnischen Grenze, wo 2009-2010 mithilfe der polnische-katholischen Kirche die höchste Christusstatue der Welt errichtet wurde (6 Meter höher als die in Rio de Janeiro). Jacek (stark: Mateusz Kościukiewicz) ist zwar nicht Atheist, aber er liebt Heavy Metal, trägt einen Zopf und drischt im Familienkreis keine rassistischen Scherze – was ihn außer bei seiner Schwester in der Sippschaft und dem gesamten Dorf verdächtig macht.
Als Jacek bei den Bauarbeiten zur Christus-Statue einen schweren Unfall erleidet, in dessen Folge er eine Gesichtstransplantation erhält, wird er einerseits in den Medien als Märtyrer für die gute Sache gefeiert. Doch aufgrund seines veränderten Aussehens bzw. seiner Andersartigkeit verstärken sich die Ressentiments seiner Umwelt ihm gegenüber sogar noch, und sei es aus Mitleid und Hilflosigkeit. Mit diesem Kunstgriff legt Małgorzata Szumowska die Doppelmoral (nicht nur, aber vor allem) der katholisch geprägten Landbevölkerung offen, die riesige Statuen errichten und große Worte im Munde führen, aber die angeblich christlich-humanen Maßstäbe im Alltag nicht umsetzen wollen oder können. Die satirisch angelegte, dennoch nicht grell überzeichnete Story verfügt also über eine wunderbare Ausgangsidee und ein überzeugendes Drehbuch, bleibt aber inszenatorisch unter ihren Möglichkeiten. Deshalb hätte ich einen Silberbären für das Drehbuch besser gefunden.
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Museo | (C) Alejandra Carvajal
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Der ging nun stattdessen an die mexikanische Produktion Museo, die Gael García Bernal mitproduziert hat und auch die Hauptrolle spielt, nämlich den Tunichtgut und Gelegenheitsschauspieler Juan Nuñez. Der ist ebenso wie sein bester Kumpel Wilson ein großes Kind ohne tiefe Reflexionen darüber, was sie mit ihrem Leben anstellen könnten. Da Juan für die Edelsteine, Masken und Wertgegenstände schwärmt, die im großen Nationalmuseum von Mexiko-Stadt ausgestellt werden, entschließt er sich kurzerhand zu einem Einbruch. Tatsächlich gelingt es ihm und Wilson, die handlichen Stücke zu entwenden. Doch beim darauffolgenden Versuch die Stücke an Hehler zu verkaufen, merken sie, dass die Nummer zu groß für sie war – weswegen die Polizei auch denkt, dass knallharte Profis für den Diebstahl verantwortlich sind.
Auch Museo ist eine gelungene, bisweilen groteske Satire mit Anti-Helden und einiger Situationskomik – die man im BERLINALE-Wettbewerb zwischen den thematisch vielen schweren Brocken gerne goutiert. Aber es gab eben auch viele andere Filme, die mit noch ausgereifteren Drehbüchern überzeugten und mehr emotionalen Tiefgang aufwiesen, darunter der gefühlte Goldbär-Gewinner bei Publikum wie Kritik, In den Gängen vom deutschen Regisseur Thomas Stuber, der sich mit dieser Tragikomödie an die Spitze der deutschen Regie-Elite geschossen hat. Seine behutsam und kurzweilig, mit viel Sinn für Details und menschliche Verhaltensweisen zusammen mit Kultautor Clemens Meyer geschriebene Geschichte erzählt von den ersichtlichen, kleinen und unsichtbaren großen Dramen unter der Belegschaft eines anonymen Großsupermarktes am Rande einer Autobahn. Die Schauspieler Frank Rogowski, Sandra Hüller und Peter Kurth überzeugen als verwundete Seelen, die quasi leicht in die Gänge, aber nur schwer wieder herausfinden.
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In den Gängen | (C) Sommerhaus Filmproduktion
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Dass weder Stubers Beitrag, noch Transit von Christian Petzold oder 3 Tage in Quiberon von Emily Atef einen Bären erhalten haben, ist die Hauptwunde, die die Jury der BERLINALE in diesem bemerkenswert abwechslungsreichen und sehenswerten Jahrgang hinterlässt. Vor allem wird der deutsche Jurypräsident Tykwer damit rechnen müssen, dieses Manko sein Leben lang unter die Nase gerieben zu bekommen. Armer Tom. Kleines Trostpflaster: Die Preise gingen an viele Nachwuchskünstler und vor allem an Regisseurinnen. Noch-Festivalchef Dieter Kosslick muss nun zusehen, dass er im nächsten Jahr zumindest ein so überzeugendes Programm wie 2018 zusammenstellt, damit er sich würdig verabschieden kann.
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Max-Peter Heyne - 26. Februar 2018 ID 10558
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