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72. BERLINALE

FORUM

L´état et moi


Bewertung:    



L’état et moi ist eine Abwandlung des Ausspruchs „L’état c’est moi“ („Der Staat bin ich“) des Sonnenkönigs Ludwig XIV. im französischen Parlament. Ein Leitsatz des Absolutismus. „Der Staat und ich“ zielt mehr auf eine Wechselwirkung oder Stellung des regierten Individuums zum regierenden Staat und seinen Institutionen. Um etwas ähnliches scheint es auch Max Linz in seinem dritten Film im Forum der Berlinale zu gehen. Hat der Regisseur sich in Ich will mich nicht künstlich aufregen mit dem Kunstbetrieb und in Weitermachen Sanssouci mit den prekären Arbeitsverhältnissen im deutschen Universitätsbetrieb beschäftigt, ist es in L’état et moi nun das deutsche Rechtssystem.

Bei der Recherche zum Film ist Max Linz in der Berliner Staatsbibliothek auf einen interessanten Zusammenhang gestoßen. Das Strafgesetzbuch in seiner heutigen Form ist im Mai 1871 zur gleichen Zeit in Kraft getreten, in der die Pariser Commune die erste sozialistische Revolution versuchte, die auch mit deutscher Unterstützung niedergeschlagen wurde. Das speziell ist nicht das Thema des Films, aber eine durchaus interessante historische Klammer. Und so trocken-theoretisch, wie das zunächst klingt, ist das bei Max Linz dann auch nicht. Der Regisseur führt die fiktive Figur des Komponisten Hans List ein, der 1871 beim Kampf auf den Barrikaden in Paris teilnimmt und nun zum Jahrestag der deutsch-französischen Freundschaft als Wachsfigur in einer Ausstellung steht, währenddessen seine Komposition Die Elenden an der Berliner Staatsoper geprobt wird. List erwacht zu neuem Leben, mischt sich unter die Komparsen der Produktion, die sofort so etwas wie eine moderne Kommune des Kulturprekariats bilden, und bringt auch sonst einiges im Berlin der Gegenwart durcheinander.

Sophie Rois spielt in einer Doppelrolle Hans List sowie die Richterin Praetorius-Camusot. Vor deren Gericht landet der Komponist (als Runnig Gag verstehen alle immer wieder Kommunist) als Terrorismusverdächtiger, an dem Staatsanwalt Donnerstrunkhausen (Hauke Heumann) und der übereifrige Polizist Diedrich D. Diedrichsen (Bernhard Schütz) unbedingt ein Exempel statuieren wollen. Zwischen den Institutionen der Judikative und Exekutive reibt sich als Wahrheitssuchender der etwas tollpatschige Rechtsreferendar Yushi Lewis (Jeremy Mockridge) auf und tritt dabei von einem Fettnäpfchen ins nächste. Die Legislative wird durch den gern Einfluss nehmenden Justizminister (Bernd Mross) verkörpert. Das läuft nicht nur auf eine nette Verwechslungskomödie hinaus. Mit viel Komik und Slapstick aber auch etwas Theorievermittlung via Fremdtextzitaten wird das starre deutsche Strafrechtssystem ironisch auf die Schippe genommen und in Frage gestellt.

Eine bunte Mischung, die formal irgendwo zwischen Berliner Schule, politischem Diskurskino und den anarchischen Filmfarcen eines Christoph Schlingensief angesiedelt ist. Und das nicht nur weil mit Kerstin Grassmann als kettenrauchende und berlinernde Museumsaufsicht eine alte Schlingensief-Darstellerin mitwirkt, die Max Linz immer wieder in seinen Filmen besetzt. In weiteren Nebenrollen sind alte Bekannte der Berliner Volksbühne wie Jean Chaize und Frank Büttner zu sehen. Die anarchische Kraft der Komik als Hort des Widerstands gegen den ganz realen Wahnsinn.



L’état et moi | (C) Markus Koob, SchrammFilm, Salzgeber

Stefan Bock - 21. Februar 2022
ID 13480
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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