PANORAMA
Stille Liv
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Bewertung:
Am Anfang fängt Stille Liv von Malene Choi grüne Hügellandschaften, Wiesen, Kühe und Felder ein. Mittendrin liegt ein großes Anwesen, wenige weitere Häuser, in einer dörflichen Atmosphäre.
Sie schwenkt in den Kuhstall, wo Carl, (Cornelius Won Riedel-Clausen) sein Vater Hans (Bjarne Henriksen) und ein Hilfsarbeiter die Kühe füttern. Die Stallarbeit wird nur zu den Mahlzeiten unterbrochen. Raus aus dem Arbeitsanzug und den Gummistiefeln, gemeinsam geht es an den Küchentisch. Der Bauer, die Bäuerin Karen (Bodil Jørgensen), der polnische Hilfsarbeiter Andrzej (Dawid Ściupidro) und ihr Sohn, Carl, 19 Jahre. Ein Familienbetrieb.
Sie essen dänisch, sie sprechen dänisch. Karl ist nicht das leibliche Kind der Familie. Er wurde als Kleinkind adoptiert, wie das Familienfoto auf dem Wohnzimmerbuffet zeigt, und hat koreanische Wurzeln. Sie sind einfache Leute und sprechen nicht viel über Persönliches am Kaffeetisch, eher, dass man sich einen neuen Traktor leisten kann. Der Traktor ist eine Investition in die Zukunft, da Carl den Hof übernehmen soll.
Ruhig zieht der ewige Kreislauf des Lebens vorbei. Aussaat und Ernte, ein Kälbchen wird geboren, eine alte Kuh zum Schlachter gebracht. Detailliert zeigt der Mähdrescher seine Verpackungskünste.
Karl ist ruhig, fleißig und sehr still. Dass er sich fremd und verloren fühlt, sieht man ihm an, aber er spricht nicht darüber. Probleme, die man nicht anspricht, existieren nicht. Genau so verfahren seine Eltern.
Ein Meteorit fällt vom Himmel, und Carl legt ihn unter sein Bett. Wenn Carl nicht klar kommt, sucht er Trost im Stroh, auf der Wiese und bei dem neugeborenen Kälbchen. Das kommt häufig vor. Sein Blick ist traurig, fragend. Er hat niemand, trifft niemand, gehört zu niemand und findet keinen Anschluss bei den Sportlern oder im Pub. Als er mehr mit Andrej unternimmt, wird gleich gemunkelt, dass er schwul sei. Mit der jungen Marie (Clara Thi Thanh Heilmann Jensen), die im Restaurant arbeitet, scheint er irgendwie seelenverwandt. Dann lächelt Carl. Und die Verwandtschaft findet, dass sie gut zusammenpassen werden, später, da sie ja auch einen asiatischen Hintergrund hat.
Schemenhaft bleiben seine Visionen. Mal taucht seine Mutter auf, vermutlich seine leibliche, sein Geburtsort, wahrscheinlich in Korea, oder ein Beruf, Fischer.
Handfester sind die fremdenfeindliche Sprüche und Scherze auf der Familienfeier im Lokal, über Migrant:innen im allgemein und über auch über Carl „er solle doch dorthin zurück gehen, wo er hergekommen ist“. Schnell werden diese als „er war doch betrunken“- Aussagen heruntergespielt. Carl spricht nicht darüber, wie sehr es ihn verletzt. Dann rennt er wieder los, in die Maisfelder, in den Stall. Er findet seine Adoptionsdokumente, möchte nach Korea fahren. Seine Eltern möchten ihn ja unterstützen, sind in allem aber auch sehr unsicher.
Richtig anstrengend wird die Einladung zu Carls Geburtstag in ein China-Restaurant, als Überraschung. Die Eltern sind bemüht, der Vater bestellt Peking Ente und einen Aperitif statt Bier, und alle sind peinlich berührt.
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Wo komme ich eigentlich her? Und warum fühle ich mich fremd in meiner Familie bei meinen Eltern? Diese Frage hat auch die Filmemacherin Malene Choi stark beschäftigt. Auch sie wurde adoptiert und weiß aus ihrer Geschichte nur, dass sie mit dem Flugzeug kam. „Als Kind dachte ich, ich komme von einem anderen Planeten“, sagte Malene Choi in einem Interview. Sie hat jahrelang recherchiert und viele dänische Menschen kennengelernt, die transnational aus Korea adoptiert wurden.
So ist der Meteorit Malene Chois´ Methapher für das Fremdsein.
Weltweit werden transnational Kinder adoptiert. Diese Adoptionen geschehen aus unerfülltem Kinderwunsch ebenso, wie, um den Kindern ein besseres Leben zu bieten, angeblich zum Besten der Kinder.
Die Filmemacherin Malene Choi und Hauptdarsteller Cornelius Won Riedel-Clausen zählen in Dänemark zu einer Minderheit von Adoptivkindern aus Südkorea, die sich inzwischen organisiert haben (Danish Korean Rights Group).
Zwischen Trauer, Trauma und behütetem Leben hin und her gerissen, gelingt wenigen adoptierten Kindern eine emotionale Stabilität und ihren Eltern der Aufbau einer unterstützenden, multikulturellen Familie. Die Selbstmordrate von adoptieren Kindern ist in Dänemark deshalb sehr hoch.
Der Film ist der zweite einer Trilogie, die Malene Choi über adoptierte Kinder in Dänemark derzeit dreht.
Stille Liv schafft es, die Zuschauenden völlig zu verstören. Er geht so subtil unter die Haut, spricht latent ein Gefühl an, das nicht zu greifen ist. Woanders sein zu wollen, wer anderes sein zu sein, das schmerzt und knotet den Magen zusammen. Eine innere Stimme, die Bilder zaubert, die Sehnsucht nach einem Land, einem Ort, an dem man nie gewesen ist. Die Sehnsucht nach etwas, was man gar nicht kennt. Marlene Choi ist es wunderbar gelungen, dies darzustellen.
Thomas Brasch hat es in einem Gedicht so formuliert:
"Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
'Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin'"
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Stille Liv | (C) Christian Geisnæs
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Hilde Meier - 26. Februar 2023 ID 14066
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de
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