Berlinale Special 2020
PERSISCHSTUNDEN
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Gute und schlechte Nachricht – welche zuerst? Die Gute: Die BERLINALE hat ihren ersten spektakulären Knallerfilm, der das bisher mittelmäßige Hauptprogramm qualitativ gleich mehrere Etagen hinaufbefördert, und ohne Übertreibung kann man sagen, in Oscar-Sphären. Die schlechte: Obgleich Persian Lessons (Persischstunden) eine Weltpremiere ist, wurde er als "Spezialgala" etikettiert und ist kein regulärer Wettbewerbsbeitrag, kann also nix gewinnen. Wie kann so etwas Peinliches passieren, eine Perle zur Handelsklasse 2 zu degradieren? Unwahrscheinlich, dass die deutschen, russischen und weißrussischen (!) Produzenten auf Preischancen verzichten. Gibt es also rechtliche Komplikationen bei der Auswertung? Egal – man hätte sie gemeinsam überwinden müssen.
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Persian Lessons ist ein zutiefst humanistischer Film in der Tradition vieler anderer Filme, die an die Grausamkeiten, die in den KZs des Nazi-Reiches geschehen sind, erinnert. Und doch zeichnet Persian Lessons sich durch einen anderen Ansatz und eine andere Tonalität aus als beispielsweise Nackt unter Wölfen (DDR, 1963), Jakob, der Lügner (DDR, 1974), Schindlers Liste (USA, 1993), Die Fälscher (Österreich/Deutschland, 2007) oder Son of Saul (Ungarn, 2015). Eher schon erinnern die Persischstunden mit ihrem mitunter pechschwarzen Humor und der bitteren Absurdität, die manche Szenen auszeichnet, an Roberto Begninis Das Leben ist schön (1997) oder am meisten an Paul Schraders Überlebensdrama Ein Leben für ein Leben – Adam Resurrected von 2008.
Das Drehbuch von Ilja Zofin basiert auf einer 2005 erschienenen, weitgehend unbekannten Erzählung von Deutschlands brilliantestem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (Solo Sunny, Sommer vorm Balkon), Erfindung einer Sprache, und fiktionalisiert einen wahnwitzigen Fall, der sich offensichtlich während des Krieges in einem KZ auf ähnliche Weise ereignet hat: Ein Deportierte KZ-Insasse überlebt, weil er behauptet, eine andere Nationalität und Sprache zu haben. Gilles (der aus Argentinien stammende Nahuel Pérez Biscayart, der auch im Wettbewerbsfilm El Prófugo zu sehen war), ein junger Belgier, wird zusammen mit anderen Juden von der SS verhaftet, deportiert und in ein Konzentrationslager nach Deutschland gebracht. Nur knapp entgeht Gilles der Exekution, indem er sich für einen Perser ausgibt, denn so einen sucht SS-Hauptsturmführer Koch (war wohl nie besser: Lars Eidinger), der nach dem Krieg nach Persien zu seinem Bruder auswandern möchte.
Gilles steht nun vor der überlebenswichtigen Aufgabe, eine Sprache zu erfinden ohne dass dies auffällt. Er memoriert zunächst einige Vokabeln, merkt aber schnell, dass er beim Unterrichten des SS-Hauptmanns an seine eigenen Erinnerungsgrenzen stößt. Dass Koch ihm auch noch die Schreibaufgabe erteilt, die Listen aller Gefangenen zu erstellen, kommt Gilles auf eine List: Er nutzt die Abkürzungen und Neukombination von Namen der KZ-Insassen und kreiert daraus Wörter. Natürlich muss Gilles stets mit der Enttarnung rechnen, was dem Film seine andauernde Spannung verleiht, aber die Zwistigkeiten zwischen dem SS-Personal und die persönlichen Eitelkeiten der Aufseher verschaffen ihm immer wieder kleine Freiräume oder Chancen aufs Überleben der ihn umgebenden Hölle auf Erden.
Obwohl der russische Regisseur Vadim Perelmann auch Grausamkeiten und rohe Gewalt durch das SS-Personal zeigt, beschränkt er sich nicht auf das bloße Verurteilen und Verdammen durch Illustrierung. Mit Unterstützung des brillanten Drehbuchs und der sensationellen Leistung Lars Eidinger in der Rolle des SS-Offiziers Koch, gelingt es Perelmann, abseits des Rassismus und der Ignoranz, weitere und mitunter ganz banale Motive wie etwa Gewinnsucht, Eitelkeit und Neid und bei den Tätern offen zu legen. Damit gewinnen alle Charaktere, auch die zutiefst unsympathischen, ein menschliches Profil mit zahlreichen Ambivalenzen, ohne dass sie dadurch in ihrem Tun entschuldigt würden. Im Gegenteil - die Melange aus rassistisch-chauvinistischen Motiven einerseits und narzisstischen und egoistischen andererseits lässt die Kaltherzigkeit und die Mordlust zwar verständlicher, aber nicht weniger widerwärtig erscheinen. Dass mitunter auch herzlich über den keineswegs beschränkten, aber in seiner Eitelkeit befangenen SS-Mann gelacht werden kann (und soll), ist eine starke Leistung von Regie, Buch und Darsteller. Zu vermuten ist, dass der SS-Offizier Koch, der so gerne Koch wäre, seinem Adlatus immer wieder Glauben schenkt, weil er sich selbst durchs Leben mogelt und sich nicht vorzustellen vermag, dass seine Großspurigkeit ausgenutzt werden kann.
Jetzt darf man gespannt sein, welche Karriere der Film noch macht und wie er im Ausland aufgenommen wird. In den deutschen Kinos läuft er offiziell am 7. 5. an.
Bewertung:
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Persischstunden | (C) alamodefilm
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Max-Peter Heyne - 23. Februar 2020 (2) ID 12024
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de/
Post an Max-Peter Heyne
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