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70. BERLINALE

Panorama 2020

SURGE



Surge ist die mitreißende Geschichte eines Londoner Mitdreißigers, der einen Nervenzusammenbruch erleidet und zum Verbrecher wird. Bei dieser Thematik drängen sich unwillkürlich Gedanken an die rechtsradikalen Attentate in Halle und Hanau auf, die wie auch schon andere Anschläge in Deutschland oder in Nachbarländern von männlichen Wirrköpfen ohne ausreichende soziale Bindungen verübt wurden. Der in Surge meisterhaft von Ben Whishaw (der "Q" aus den Daniel Craig-Bondfilmen) verkörperte Joseph ist zwar auch ein gefährdeter und gefährlicher, einzelgängerischer Mann, ja. Aber damit enden die Parallelen zu den rassistischen, durch Verschwörungstheorien und rechtspopulistische Ideologien motivierten Terroristen.

Der Londoner Regisseurs Aneil Karia, der bisher Kurzfilme und Fernsehserien inszeniert hatte, porträtiert Joseph nicht als Fanatiker mit auffälligen Vorurteilen und Gewaltfantasien. Stattdessen zeigt er einen Durchschnittstyp, der wie wir alle unter den Belastungen des alltäglichen Arbeitsstresses, des Leistungsdrucks, aber auch der Routinen und Monotonie leidet. Aneil Karias auf dramatische Weise scheiternder Antiheld Joseph ist uns viel näher als Terroristen, die aus grausamen Kalkülen handeln: Er ist ein Amokläufer. Die Geschichte von Surge könnte eine jener tragischen Zeitungsmeldungen sein, bei der wir uns als Leser fragen, was die Täter geritten hat.

Als Mitarbeiter der Sicherheitskontrolle an einem Londoner Flughafen ist Joseph qua Beruf jemand, der die sich ausbreitende Paranoia eindämmen soll. Dass er heimlich eine schwarze Kollegin anbetet, bleibt sein Geheimnis, denn sprechen tut er kaum, auch an seinem Geburtstag nicht. In einer Szene kontrolliert er einen paranoiden, abgedrehten Passagier, der schließlich verhaftet wird. Nur wenige Szenen später ist es Joseph, der die Nerven und beinahe völlig den Verstand verliert. Regisseur Karia lässt eine Situation zwischen Jospeh und seinen kleinbürgerlichen Eltern eskalieren. Anschließend verfolgt die nervöser Handkamera (Stuart Bentley) Joseph auf einem zunhemend wahnwitzigen Psychotrip durch Londons Innenstadt, wo er mit einfache Mitteln Banken ausraubt – hauptsächlich, um seiner erkrankten Kollegin zu helfen.

Das temporeiche Geschehen würzt Regisseur Karia mit grimmigem Witz, denn im Verlauf seines Amoklaufs vollbringt Joseph hin und wieder auch positive Dinge. So z.B. als er einen angetrunkenen Dampfplauderer, der eine Hochzeitsgesellschaft mit seinen Peinlichkeiten an den Rand der Eskalation bringt, in die Schranken weist. Durch diese und andere Situationen suggeriert Karia, dass der Amokläufer zwar die Grenze zum justitiablen Verhalten überschritten hat, aber viele andere Zeitgenossen moralisch nicht viel besser dastehen als Joseph.


Bewertung:    



Surge | (C) Rooks Nest Entertainment

Max-Peter Heyne - 1. März 2020 (2)
ID 12047
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de/


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