Wettbewerb 2020
FAVOLACCE
NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS
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In der zweiten Hälfte des Berlinale-Wettbewerbs um den Goldenen und die Silbernen Bären waren dann doch noch einige Filme zu sehen, die sehenswert waren. Zu ihnen zählen die italienisch-schweizerische Koproduktion Favolacce (Bad Tales) der Regie-Brüder Fabio & Damiano D’Innocenzo und das US-amerikanische Independent-Drama Never Rarely Sometimes Always von Eliza Hittman. In beiden Geschichten sind die Kinder bzw. Jugendlichen mit einer Herkunft aus kleinbürgerlich-piefigen Verhältnissen und empathielosen, egoistischen Eltern gestraft. Die Tonlage ist in den Filmen allerdings grundverschieden: Während die italienischen Regisseure deftig austeilen und die Erwachsenen in ihrer moralischen und intellektuellen Armseligkeit bloßstellen, sind die Generationenkonflikte in Eliza Hittmans Film nur angedeutet, letztlich aber ausschlaggebend dafür, dass die Hauptpersonen, zwei junge Frauen, sich nicht ihren Eltern anvertrauen, sondern Hilfe in der Ferne suchen.
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Favolacce
Fabio & Damiano D’Innocenzo machen schon mit den ersten Szenen klar, dass es nicht ausschließlich an der italienischen Sommerhitze liegt, dass die Erwachsenen in diesem Film so wirken, als seien ihn ein paar Sicherungen durchgebrannt. Vor allem die chauvinistischen, rechthaberischen Väter könnten kaum unsympathischer gezeichnet sein. Im vorauseilenden Gehorsam lassen ihre Frauen sie gewähren, sind jedenfalls zu korrigierenden Maßnahmen nicht fähig. Die Kinder werden zwar nicht körperlich gezüchtigt (jedenfalls ist das nicht zu sehen), aber zu Ehrgeiz und Karrierestreben erzogen, um nach Möglichkeit so zu werden, wie ihre Eltern gerne wären.
In dieser Reihenhaussiedlung im Speckgürtel Roms werden zwar Nachbarschaften beim Barbecue gepflegt, aber doch sehr ritualisiert und unehrlich. So kauft einer der Väter (finster: Elio Germano) seiner Familie zum Abkühlen zwar ein großes, aufblasbares Swimming Pool für den Garten. Aber bald schon wurmt ihn, dass er erlaubt hat, dass auch andere Kinder im Viertel es nutzen und schlitzt es kurzerhand auf, als es niemand sieht. Keiner der Eltern ist ehrlich und authentisch, was ihre Handlungen und ihre Kommunikation betreffen, die Stimmung schwankt zwischen bedrückt bis gereizt, soll aber nach außen harmonisch wirken. Die Kinder erleben also permanent, wie sich die Erwachsenen versuchen, ein richtiges Leben im falschen zusammenzimmern – und denken sich ihren Teil, ohne sich negative Gefühle anmerken zu lassen (die erst am Schluss enthüllt werden).
Die kindliche Perspektive erlaubt es den Filmschaffenden, die Erwachsenenwelt wie ein Tollhaus darzustellen, in dem Materialismus und Neid so sehr den Alltag dominieren, dass Mitmenschlichkeit und Empathie verdorrt sind. Reicher Nährboden also für krypto-faschistische Gedankenwelten rechtspopulistischer Bewegungen, was unterschwellig in den Dialogen anklingt. Diese berechtigte wie bittere Sozialkritik verliert allerdings einen Teil ihrer Wirkung, da die Regisseure sämtliche Erwachsenen-Figuren als moralisch verrottet vorführen, um nicht zu sagen: diffamieren, aber den sozialpolitischen Kontext und die soziale Abkoppelung, der zu der psychischen Degeneration führt, im Vagen belassen.
Bewertung:
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Favolacce | (C) Pepito Production, Amka Film
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Never Rarely Sometimes Always
Auch im Pubertätsdrama der Amerikanerin Eliza Hittman ist die Vorstadt eine Vorstufe zur Hölle, in der Materialismus und Spießertum das Leben von jungen Leuten auf ähnliche Weise belasten wie im italienischen Film. Für die 17jährige Autumn (subtil: Sidney Flanigan), die im örtlichen Supermarkt jobbt, wird die Situation besonders heikel, als sie erfährt, dass sie ungewollt schwanger geworden ist. Fest entschlossen eine Abtreibung vorzunehmen, macht sich Autumn mit ihrer besten Freundin (Talia Ryder), die gleichzeitig ihre Cousine ist, aus dem ländlichen Pennsylvania Richtung New York auf den Weg, wo Schwangerschaftsabbrüche bei unter 21jährigen auch ohne Einwilligung der Eltern durchgeführt werden. Aus mitteleuropäischer Sicht fällt die Unerfahrenheit der jungen Provinzlerinnen auf, mit komplexen sozialen Situationen umzugehen. Aber ihre enge, vertrauensvolle Freundschaft hilft den beiden Freundinnen, ihre Unsicherheit zu bewältigen.
Der Film beschreibt ausführlich, wie Autumn und Skylar sich mit dem Ersparten, das sie zusammengekratzt haben, zwei Tage in New York durchschlagen, ohne so recht zu wissen, wo sie bleiben sollen, da sie sich nur auf einen Kurztrip eingerichtet haben. Zeitweise gerät ihre Freundschaft in eine Krise, aber die Sorge über die jeweils andere überwiegt. Nach rund einer Stunde kommen die emotional stärksten Szenen des Films, wenn Autumn die Fragen der beratenden Ärztin bzw. Sozialarbeiterin beantworten muss, die ahnen lassen, welches Drama hinter der Schwangerschaft steckt. Für die introvertierte Auntumn eine Herausforderung, was verdeutlicht, wie wenig Unterstützung sie in ihrem heimatlichen Umfeld erfährt.
Der Film bietet zwar starke Momente, die in Erinnerung bleiben, und überzeugt durch sein sensibles Erzählen, das sich auf die starken Darstellerinnen konzentriert. Aber letztlich fehlt auch diesem Wettbewerbsfilm der große Atem, die epische bzw. in die Tiefe gehende, dramaturgische Qualität. Er hätte auch gut ins Panorama-Programm gepasst, wo solche eher skizzenhaften Dramen tatsächlich auch anzutreffen sind. Innerhalb des diesjährigen Wettbewerbs ist er allerdings eine Perle.
Bewertung:
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Never Rarely Sometimes Always | (C) Focus Features
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Max-Peter Heyne - 28. Februar 2020 ID 12037
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de/
Post an Max-Peter Heyne
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