RETROSPEKTIVE
& BERLINALE
CLASSICS
Banale Tage
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Bewertung:
„Die Dinge wiederholen sich. Ich glaube, dass alles eine furchtbare Wiederholung ist… Fressen, Saufen und Ficken. Die ganze verlogene Scheiße.“ So Thomas, der jugendliche Held in Banale Tage, kurz nach der Wende 1990 von Regisseur Peter Welz gedreht. Es ist einer der letzten Spielfilme aus der Ära der DEFA, selbstproduziert in der künstlerischen Gruppe Da Da eR. Zu sehen ist der Film nun wieder auf der BERLINALE im Rahmen der Retrospektive unter dem Motto „Das andere Kino“.
Die Deutsche Kinemathek, Hüterin und Vermittlerin unseres deutschen Filmerbes, blickt mal wieder ins eigene Archiv und zeigt „unangepasste Protagonist*innen, eigenwillige Filmsprachen und unkonventionelle Produktionen der deutschen Filmgeschichte jenseits des Kanons.“ Unter den 23 Filmen aus dem Zeitraum zwischen 1960 und 2000 sind u.a. Chapeau Claque (BRD 1974) von Ulrich Schamoni, Das deutsche Kettensägenmassaker (D 1990) von Christoph Schlingensief, Engel aus Eisen (BRD 1980) von Thomas Brasch oder Die Deutschen und ihre Männer - Bericht aus Bonn (BRD 1989) von Helke Sander. Aber auch Filme von Helke Misselwitz, Elfi Mikesch, Pia Frankenberg, Helma Sanders-Brahms oder Roland Klick sind im Angebot, das mit Denk bloß nicht, ich heule (1965/1990) von Frank Vogel leider nur einen echten Film aus der DDR parat hat.
Genau deshalb lohnt sich auch ein erneuter Blick auf den Film Banale Tage, dessen Handlung im Jahr 1978 in Ost-Berlin angesiedelt ist. In der alten Bundesrepublik war das bekanntlich die Zeit des Deutschen Herbst. Der Bundestag verabschiedete das zweite Anti-Terror-Gesetz, und der Film Deutschland im Herbst wurde gezeigt. Aber auch in der DDR tat sich einiges. Staats- und Parteichef Erich Honecker traf sich mit Spitzen der Evangelischen Kirche in der DDR und räumte den Gemeinden mehr Freiheiten ein, was diese u.a. für ein Jugendprogramm nutzten, unter dessen Deckmantel auch dissidentische Bestrebungen keimten. Der Film zeigt eine Gruppe von Jugendlichen, die unter dem Motto „Beten und Feten“ einen Jugendclub renoviert. Da sind die Leinen natürlich kurz angelegt und immer auch mindestens einer vom Staatssicherheitsdienst dabei. Außerdem wurde in den Schulen der DDR die vormilitärische Ausbildung eingeführt. Auch das ist im Film kurz zu sehen.
Für die Kulturpolitik legte die SED einen „Plan zur langfristigen Entwicklung der sozialistischen Kultur und ihrer materiell technischen Basis“ auf. Hermann Kant wurde neuer Präsident des DDR-Schriftsellerverbandes und brachte den Verein wieder auf Parteilinie. Es ist die Zeit der beginnenden Stagnation und Resignation. Womit wir wieder beim Lehrling Thomas und seiner Aussage von der „ganzen verlogenen Scheiße“ sind. Das Drehbuch beruht auf einem unveröffentlichten Manuskript von Michael Sollorz. Der 1962 geborene Schriftsteller arbeitete in den 1980er Jahren im Berliner Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe „Schwule in der Kirche“, lieferte aber auch als IM Berichte an die Stasi. Eine von vielen DDR-Biografien in der Ost-Berliner Subkultur, zu der auch Film- und Theaterschaffende wie Peter Welz, Frank Castorf oder Leander Haußmann gehörten. Welz hatte bereits einen Kurzfilm nach einem Drehbuch von Frank Castorf gedreht. Das Drehbuch für seinen Abschlussfilm an der HFF schrieb Leander Haußmann. Damit sind die Eckpfeiler gesetzt.
Auch das Ensemble von Banale Tage speist sich aus der Prenzlauer-Berg-Boheme und dem Kosmos um den späteren Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf. Zu sehen sind u.a. Kurt Naumann als dem Alkohol zugetaner Dramaturg an der Volksbühne, Astrid Meyerfeldt als linientreue Schuldirektorin, Michael Klobe als Schwerter zu Pflugscharen tragender Chef der Jungen Gemeinde, Stefan Kolosko als strebsamer Best-Lehrling und Bärbel Bolle als Mutter von Thomas. Aber auch andere angehende Schauspieler sind hier in ersten Rollen zu sehen wie Christian Kuchenbuch als Thomas, Florian Lukas als sein Freund Michael und der leider viel zu früh verstorbene Sven Lehmann (DT) in einer Minirolle als Mitglied der Jungen Gemeinde. Karin Mikityla, Ernst-Georg Schwill, Jörg Panknin, Herbert Olschok, Kathrin Waligura oder Rolf-Peter (RP) Kahl dürften sicher nur Eingeweihten oder Cinephilen bekannt sein. Nicht so der kurz vor der Wende in die DDR übergesiedelte und kurz danach an AIDS gestorbene Schriftsteller Ronald M. Schernikau, der hier den Volksbühnen-Schauspieler Bernd gibt. Als Witz seiner selbst steht als Mann mit Hut noch PDS-Legende Hanno Harnisch herum. Ein illustrer Kreis, der bei den Dreharbeiten sicher viel Spaß gehabt haben dürfte.
Es geht um den Lehrling Thomas und seinen Freund, den Schüler Michael. Sie treffen sich auf einem Konzert der Gruppe Keimzeit, die nach der Wende relativ bekannt wurde, und proben vor der letzten Straßenbahn nach Hause schon mal den kleine Aufstand mit dem Einheitsfrontlied. Während für den vor seinem Lehrmeister (Jörg Panknin) als eine Art Eulenspiegel rebellierenden Thomas das Leben nur in vorbestimmten „konzentrischen Kreisen“ zu verlaufen scheint, will Michael unbedingt etwas ändern. Von seinem Vater mit dissidentischer Literatur (hier ein Buch von Robert Havemann) versorgt, reizt er seine Schuldirektorin, was der Vater wieder in Ordnung bringen muss. Dann schmieden die beiden Freunde Pläne, eine leer stehende Wohnung zu besetzen.
Während sich Thomas mehr und mehr für seine Mitschülerin Karin (Simone Walter) interessiert und erste Liebeserfahrungen macht, schreitet Thomas zur Tat. Aber die Stasi ist ihm bereits auf den Fersen. Als Stasi-Clowns und Kneipenbewohner sind hier Gerhard Hähndel und Maximilian Loeser zu sehen, die auch noch eine herrlicher Herbert-Wehner- und Helmut-Kohl-Parodie hinlegen. Den Plot hätte Leander Haußmann nicht besser hinbekommen. Welz würzt seinen als Farce auf die Verhältnisse im real existierenden Sozialismus zu sehenden Film noch mit vielerlei literarischen Verweisen, so der Hoffnungsdefinition von Descartes und liturgischen Versen zu Jammer, Elend und Tod. Thomas zitiert ständig aus J. D. Salingers Der Fänger im Roggen. Ein Roman, der in der DDR auch nur unterm Ladentisch erhältlich war. Als ostdeutschen Holden Caulfield könnte man hier den Teenager Michael sehen. Angeödet von den Phrasen seines Vaters, der ein großes kritisches Theaterstück verspricht und dann doch dem zur Premiere anwesenden Kulturminister hofiert, wandelt er durch die abgeranzte Prenzlauer-Berg-Szene. Eine tragikomische Geschichte, die sich am Ende selbst als Film im Film entpuppt. Mit leicht surrealem Touch erzählt er vom jugendlichen Aufbäumen gegen gesellschaftliche Konventionen und dürfte damit auch exemplarisch für die Wendezeit und so manch verpasste Chance stehen. Ein kostenpflichtiger Stream ist z.B. auf amazon.de (3,99 €) verfügbar.
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Banale Tage | (C) DEFA-Stiftung - Michael Schaufert
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p. k. - 22. Februar 2024 ID 14621
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de
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