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74. BERLINALE

WETTBEWERB

Sterben


Bewertung:    



Nach Der freie Wille (2006) und Gnade (2012) war Matthias Glasner mit seinem neuen Film Sterben zum dritten Mal im Wettbewerb der BERLINALE vertreten. Und wie der Titel schon vermuten ließ, auch wieder mit einem recht schweren Thema.

*

In drei von fünf Kapiteln des Films geht es aus verschiedenen Perspektiven um die Mitglieder der Familie Lunies, mit der Glasner zum Teil auch die eigene Familiengeschichte aufarbeitet. Im ersten Teil lernen wir die Mutter Lissy (Corinna Harfouch), Mitte 70, und ihren Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) kennen. Selbst schwer an Diabetes und Krebs erkrankt, kann und will sich Lissy nicht mehr um ihren demenzkranken Mann kümmern. Nachdem sie einen Herzinfarkt erleidet, kommt Gerd in ein Pflegeheim.

Glasner zeigt hier ungeschönt die Probleme des Älterwerdens, das aber nicht ganz ohne ironischen Unterton und Situationskomik. Bezeichnend hier auch einige Szenen zur Situation in der Pflege und Finanzierung durch die Krankenkassen. Lissys Kinder Tom (Lars Eidinger), Dirigent in Berlin, und Ellen (Lilith Stangenberg), Zahnarzthelferin in Hamburg, sind der Mutter auch keine große Hilfe. Die emotionale Distanz zum Sohn wird in einem ersten Telefonat, bei dem Lissy im Flur ihrer Wohnung in ihren eigenen Exkrementen sitzt, deutlich. Das Telefonat erleben wir im zweiten Kapitel des Films aus der Sicht Toms, der bei den schwierigen Proben eines Musikstücks seines besten Freundes Bernard (Robert Gwisdek) nicht weiter kommt und die Mutter vertröstend abwimmelt.

Glasner setzt an den Beginn seines Films eine kleine mit Handykamera gedrehte Szene, in der er seine eigene Tochter über Liebe und Gefühle reden lässt. „Du sollst auf dein Herz hören“, sagt hier das kleine Mädchen. Allein das scheint den Mitgliedern der Familie Lunies nicht zu gelingen. Warum es zur emotionalen Entfremdung gekommen ist, kann man aus einem Gespräch der Mutter mit dem Sohn nach der Beerdigung des Vaters entnehmen. Fragen Toms zu Ereignissen aus der Kindheit wiegelt die Lissy einfach ab. Schließlich knallt sie ihm die Nachricht ihres baldigen Tods an den Kopf, gefolgt von der Tatsache, dass Tom eher ein „Unfall“ war und die vom arbeitenden Vater allein gelassene Mutter keine emotionale Bindung zu ihrem Sohn aufbauen konnte. Beide gestehen sich in aller Ruhe ihre Abneigung. Wie ein vorgezogener Showdown wirkt die Szene nachhallend durch den weiteren Film, der dann im dritten Kapitel noch die bisherige Leerstelle der Tochter Ellen behandelt.

Das wirkt dramaturgisch ein wenig verzettelt. Mit Lilith Stangenberg bekommt der Film aber zunächst einen filmischen Break hin zu einer Frau, die, um sich lebendig zu fühlen, jeden Tag ihr Quantum Alkohol braucht. Ziellos trinkt sich Ellen durch Bars und Kneipen. Eigene Talente wie das Singen lässt sie scheinbar ungenutzt. Da dreht der zunächst noch recht ruhige Film sichtlich auf. Ellen erwacht schon mal mit Filmriss in einem Hotel in Lettland, oder schläft bei der Behandlung von auf dem Zahnarztstuhl leidenden Patienten ein. Im unglücklich verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld) findet Ellen kurzzeitig einen Sparringspartner, dem das exzessive Leben allerdings bald zu viel wird. Die bizarrste Szene ist Ellens Hust- und Kotzanfall während Toms Premiere in der Berliner Philharmonie. Die Abwehr gegen ihren „Hipster“-Bruder äußert sich sozusagen direkt körperlich. Auch wenn der Film da viel offen lässt, zeigt sich Ellens Frust in einigen markanten Nebensätzen.

Leider fokussiert sich der Film in den letzten beiden Kapiteln wieder mehr auf Tom und seine verkorksten Beziehungen. Etwa zu seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke), die ihn zum Ersatzvater ihres Kindes machen will, da ihr der leibliche Vater (Nico Holonics) nicht passt. Nicht unwesentlich ist Toms Freundschaft zum depressiven Komponisten Bernard, der auf der Suche nach dem wahren Gefühl in der Musik an sich selbst und seinen Ansprüchen zu scheitern droht. „Der schmale Grat“ zwischen Publikumsgunst und wahrem Gefühl, sprich Kitsch und Kunst, kann von beiden nur durch eine drastische Handlung getroffen werden. Das ist eine böse Pointe des Films. Eine weitere, nicht weniger schmerzhafte ist, dass Sterben einen auch nach drei Stunden nicht so leicht loslassen wird.

* *

Glasners Film überzeugt trotz einiger Holperer in der Dramaturgie durch ein hervorragendes Ensemble, das einen durchweg bei der Stange zu halten vermag.

Für das Drehbuch verlieh die Internationale Jury Matthias Glasner einen Silbernen Bären, was durchaus in Ordnung geht.



Sterben | © Jakub Bejnarowicz - Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

p. k. - 26. Februar 2024
ID 14632
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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