Eine andere Madame Bovary
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Bewertung:
Die Erzählungen und Romane von Guy de Maupassant gehören zu den beliebtesten literarischen Vorlagen für Filme. Das mag unter anderem daran liegen, dass ihr gepflegtes Ambiente des 19. Jahrhunderts reizvolles Material für dekorative Kostümfilme abgibt. Ihre Lebensnähe und ihre psychologischen Einsichten gehen einher mit einer gelegentlichen Nähe zur Trivialliteratur, die den Bedürfnissen des breiten Kinopublikums entgegen kommt.
Ein Leben, bekannt auch unter dem Titel Die schlichte Wahrheit, war Maupassants erster Roman und ist 1883 erschienen. Da war der Schriftsteller bereits als Autor zahlreicher Novellen populär. Die Verfilmung von 2016 durch den französischen Schauspieler und Regisseur Stéphane Brizé, die jetzt als DVD vorliegt, ist bereits die vierte. Der Film spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts im adeligen Milieu. Wenn die verarmte Hauptfigur am Ende ihre Höfe verkaufen muss, mag man an Tschechows Kirschgarten denken. Aber Ein Leben trifft vor allem auf das gegenwärtig gesteigerte Interesse an Frauenschicksalen.
Brizés Film ist stilistisch geprägt von der Durchbrechung der Chronologie durch die ausgiebige Verwendung von Rückblenden und Vorausschauen, die die unterschiedlichen Phasen des Lebens der Heldin unmittelbar aufeinander treffen lassen. Was wie ein Idyll beginnt, wird bald dem Zweifel des Zuschauers ausgesetzt. Die Motive sind vertraut: Es geht um Ehebruch, ungewollte Schwangerschaft, Standesunterschiede, Wahrheit, Lüge und die Kirche, es geht um Schuld und Schulden.
Was viele französische gegenüber deutschen Filmen auszeichnet, eine sorgfältige Lichtregie, die sich an der Malerei des 17. bis 19. Jahrhunderts orientiert und es nicht zulässt, dass Räume hell ausgeleuchtet sind, wo eine Kerze als Lichtquelle zu sehen ist, trifft auch auf diese französisch-belgische Produktion zu. Wetter und Jahreszeiten dienen in bewährter Manier der Veräußerlichung seelischer Zustände. Die Kamera bleibt meist nah an den Gesichtern. In den Dialogen sieht man häufig die Reaktion der Zuhörenden in Großaufnahme anstelle der Sprechenden, deren Rede aus dem Off kommt.
In der Hauptrolle der Jeanne Le Perthuis des Vauds besticht Judith Chemla durch Wandlungsfähigkeit, die Voraussetzung ist für die glaubwürdige Darstellung der Widerspüche, die sich innerhalb des Zeitrahmens von immerhin 27 Jahren offenbaren. Es muss nicht immer Netflix sein. Der europäische Film hat immer noch etwas zu sagen.
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Thomas Rothschild – 19. Dezember 2018 ID 11108
Weitere Infos siehe auch: https://www.goodmovies.de/ein-leben.html
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