Wider den
Mangel an
Empathie
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Bewertung:
Es vergeht kaum ein Tag, da einem nicht das Wort „Flüchtling“ oder neuerdings „Flüchtender“ begegnet. Aber machen wir uns nichts vor: Wie viele Menschen gibt es, die das Wort mit realen Vorstellungen füllen, die ihre Fantasie dazu bewegen, nachzuempfinden, mit welchem Leid, welcher Not dieser Begriff verbunden ist?
1977 haben die finnische Filmemacherin Ingemo Engström und ihr Mann Gerhard Theuring einen Filmessay gedreht, der zu den Meilensteinen des deutschen Dokumentarfilms gerechnet werden muss und geeignet ist, an einem markanten Beispiel der Geschichte zu illustrieren, was Flucht bedeutet. Fluchtweg nach Marseille rekonstruiert auf den Spuren von Anna Seghers’ Roman Transit den Weg der Autorin und ihres Helden aus Nazi-Deutschland nach Marseille, wo sie und viele andere die Rettung vor Verfolgung und Tod durch ein Schiff, meist über Spanien und Portugal, nach Amerika erhofften.
So tragisch die Ereignisse sind, von denen der Film berichtet, verzichtet er auf jegliches Pathos oder auf Sentimentalität. Durch die verhaltene Sprechweise namentlich von Hildegard Schmahl, die langen Einstellungen und die Sprache des Kommentars erhält er einen geradezu lyrischen Charakter. Rüdiger Vogler, zur Zeit der Entstehung des Films, 1977, durch Wim Wenders ein Star des deutschen Films, spricht Auszüge aus dem Roman, Katharina Thalbach erzählt ihn, subjektiv, nach. Durchgängig werden die Situationen aus den Jahren des Geschehens, also vor allem der ersten Hälfte der vierziger Jahre, verknüpft mit der Lage im Jahr der Filmproduktion. Die Interviews – besonders beeindruckend: mit Alfred Kantorowicz –, das historische Archivmaterial, größtenteils aus deutschen Wochenschauen, und die Bilder von Orten (zum Teil die bei Seghers erwähnten, 1977 noch existierenden Cafés und Hotels) und Landschaften, werden immer wieder unterbrochen durch Exkurse über einzelne Zeitgenossen wie Walter Benjamin oder Pablo Casals. Auch auf Oradour wird ein Seitenblick geworfen. Wem unter den heutigen Gymnasiasten sagt dieser Ortsname (oder Coventry, oder Lidice) noch etwas? Diese Unwissenheit rächt sich auch in der Beurteilung der Gegenwart.
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Jetzt hat die Edition filmmuseum den zweiteiligen Film mit einer Länge von insgesamt dreieinhalb Stunden auf einer Doppel-DVD herausgebracht und einmal mehr jene andere deutsche Filmgeschichte ins Bewusstsein gehoben, die gemeinhin verschwiegen wird. Sie erfüllt also eine doppelte Funktion. Sie leistet einen Beitrag zur Geschichte des Mediums und erzeugt Empathie für Menschen, die auf der Flucht waren und beispielhaft demonstriert haben, was auch heute noch gilt: dass nicht Treue zur eigenen Heimat der höchste Wert ist, sondern Treue zur Menschlichkeit, notfalls auch im Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime im eigenen Land. Das ist die Theorie. Peter Gingold weist gegen Ende darauf hin, dass es in Frankreich, wo der 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert wird, kein Dorf gibt, in dem nicht der Kämpfer der Résistance gedacht wird. In Deutschland, wo der 8. Mai immer noch für viele ein Tag der Niederlage ist, gilt, wer gegen Hitler gekämpft hat, als Verräter. Nicht anders als in Russland ein Russe, der sich gegen den Ukraine-Krieg ausspricht.
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Thomas Rothschild – 12. Mai 2023 ID 14193
https://www.edition-filmmuseum.com/
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