Die Hamlet
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Bewertung:
Dass Frauen auf der Bühne Männer darstellen und Männer Frauen, ist mittlerweile so alltäglich, dass es nicht mehr Aufmerksamkeit verdient als die Verwendung von amerikanischen Popsongs für jeden beliebigen Zusammenhang oder die Beifügung eines Tänzers zum Ensemble. Zu fragen wäre, welche Funktion diese Geschlechtervertauschung jeweils hat. Das wird dem Publikum oft nicht vermittelt und scheint den Regisseuren noch weniger klar zu sein. Darin unterscheidet sich durchdachte Konzeption von Mode.
Sandra Hüller hat für ihre Verkörperung der Titelfigur im Bochumer Hamlet viel Lob erfahren. Und man schaut ihr gerne zu. Dass sie eine Frau ist, spielt keine Rolle, weil sie eine Rolle spielt. Im diametralen Gegensatz zu jenen Schreihälsen, die uns erklären, dass ein Weißer keinen Schwarzen und ein Nachfahre der Kolonialisten keinen Indigenen mimen dürfe, teilt Johan Simons die Jahrhunderte alte Einsicht, dass im Theater jede und jeder jede beliebige Gestalt annehmen kann und dass gerade dies – jedenfalls bis vor kurzem – das Wesen und die Magie von Theater ausgemacht hat. Wenn sich allerdings jemand daran stößt, dass eine Schwarze – Mercy Dorcas Otieno – als Gertrud einen weißen Sohn, Hamlet eben, hat, dann muss das nicht unbedingt Ausdruck von Rassismus sein. Es kann auch den Verirrungen eines Realismus in den Künsten geschuldet sein. Es ist ja nicht der einzige Fall, in dem sich Onkel Otto empört: „Aber das kommt doch im wirklichen Leben nicht vor!“
Simons sucht nicht nach Analogien in der Gegenwart, sondern vertraut der Intelligenz Shakespeares und dem bleibenden Wert seiner Erkenntnisse. Zeitgenössisch ist in seinen flotten, übergangslosen Szenen nicht, wie so oft, ein aufgesetztes Beiwerk, das weit hinter dem vorliegenden Drama zurückbleibt, sondern die Sprache: die Körpersprache und die gesprochene Sprache der Übersetzung von Jürgen Gosch und Angela Schanelec. Lediglich aus Heiner Müllers Hamletmaschine (wo sonst?) hat man sich sparsam bedient. Den radikalen Kürzungen fallen große Teile beliebter Exkurse – etwa der Mausefalle – zum Opfer. Die Inszenierung balanciert überzeugend zwischen psychologischer Menschenkenntnis und unmanierierter Stilisierung. Fast mehr noch als Sandra Huelle überzeugt Bernd Rademacher als Polonius in dieser Technik.
Dass sich Rollenspiel und Verfremdung nicht in die Quere kommen müssen, wird hier nachdrücklich unter Beweis gestellt. Die Figuren treten zunächst stumm von der Seitenbühne auf wie in legendären Inszenierungen des sowjetischen Revolutionstheater und dann aus dem (publikumsfreien) Zuschauerraum und verlassen die leere quadratische Bühne wieder nach vorne, wenn sie ihren Part absolviert haben. Verfremdet wirken, durch die vergleichsweise junge Übersetzung, auch die zu geflügelten Worten verkommenen „Stellen“, die jedoch erkennbar bleiben.
Das finale Massensterben lässt Simons erzählen. Danach kommt Fortinbras, der so oft wegretouchiert wird, auf die Bühne. Er sieht aus wie ein Flüchtling aus dem Vorderen Orient und spricht eine fremde Sprache.
Hamlet ist als DVD in der ZDF theater edition erschienen, die allerdings nicht mit der kulturellen Todsünde versöhnen kann, dass der Theaterkanal nun schon seit vielen Jahren eingestellt wurde, während sich die Idiotie im Hauptprogramm vermehrt hat wie die Pilze im Wald nach einem Regen.
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Thomas Rothschild – 3. August 2021 ID 13064
NAXOS-Link zur DVD mit Hamlet (Schauspielhaus Bochum)
Post an Dr. Thomas Rothschild
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