Lost in Transmission
Deutsche Filmfestivals im Herbst 2021
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Am Eröffnungsabend sah es noch so aus, als seien die Lübecker Festivalbesucher unerschrockener als jene vom Filmkunstfest MV in Schwerin (Anfang September), den Filmtagen Husum (Ende September), den Filmtagen in Hof (Anfang November) und den Filmfesten in Hamburg (Anfang Oktober) und in Emden (Mitte Oktober) – um vor allem die norddeutsche Phalanx an Filmfestivals dieses Herbstes zu nennen. Eine lange Schlange vor dem Lübecker Mutterhaus der CineStar-Gruppe und voll besetzte Säle versprachen ein Event, das an alte Zeiten anknüpft, als es regelmäßig ein hartes Ringen um freie Plätze gab. Dass die bisherigen Corona-Abstandsregeln für Kinos im virenarmen Schleswig-Holstein kurz vor den Nordischen Filmtagen vollständig aufgehoben wurden, wirkte wie ein hoffnungsvoller Vorbote auf Normalisierung.
Doch der Eindruck täuschte, denn an den darauffolgenden Tagen dünnte der Publikumsstrom aus und blieben viele Sitze in den CineStar-Kinos frei, sodass am Ende ähnlich wie bei den anderen erwähnten Festivals nur etwa die Hälfte jener Besucherzahlen erreicht wurde, die vor der Pandemie die Regel waren. Zwar konnten sich alle Filmfestivals auf einen harten Kern an Fans verlassen. Aber die Beobachtung ergab, dass insbesondere die etwas ältere Klientel sich noch zurückhält und geschlossene Räume mit vielen Menschen darin nach wie vor meidet. Entsprechend fehlt dieser Personenkreis nicht nur auf den Festivals, sondern sorgt auch für überschaubare Zahlen im regulären Arthaus-Betrieb in Deutschland – Zahlen, die für manche der vielen im Umlauf befindlichen Filme spektakulär bescheiden ausfallen.
Außer der Neuverfilmung von Dune und dem neuen Bond sowie einigen Familienfilmen läuft der große Rest, der von den überfüllten Lagern unter Hochdruck in die Kinos gedrückt wurde, unter Wert, heißt: meist ohne jeden Profit. Mancher Streifen wie etwa der neue Clint Eastwood-Film Cry Macho, die schräge Dänen-Komödie Helden der Wahrscheinlichkeit, das deutsche Drama Walchensee forever oder gar der französische Cannes-Gewinner Titane – allesamt sehenswerte Filme – erreichen lediglich einen Bruchteil dessen, was im Arthaus-Bereich vor den Lockdowns gang und gäbe war.
Gemessen an den Kinostarts mancher Filme schneiden die Festivals derzeit noch ganz gut ab. Aber auch wenn die Stimmung nach über einem Jahr Zwangspause oder Online-Ausgaben besser geworden ist, war nicht zu übersehen, wie viel steifer und zurückhaltender die Atmosphäre bisweilen wirkte. Auch dem Personal war oft eine gewissen Anspannung anzumerken, bei den 3G-Kontrollen oder anderen Prozederes bloß nichts falsch zu machen. Wenn es Kontrollen unter der Prämisse 2G gibt, fühlen sich die meisten Menschen noch recht sicher und nehmen es mit dem Abstandhalten nach dem zweiten Wein nicht mehr ganz genau. Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, die für die Oktober-Festivals nicht zu umgehen waren, lösen bei etlichen Besuchern unwillkürlich Unsicherheiten aus. Muss ich jetzt am Platz oder Stehtisch Maske tragen? Darf ich mir am Büffet selber eine Portion nehmen oder muss ich vorher einen Kellner bitten? Welche Richtlinien gelten in den Bundesländern, zu denen man anreiste?
Festivals wie in Lübeck und Cottbus stellten Medien- und Branchenvertretern einen Großteil ihrer Beiträge gegen die Akkreditierungsgebühr auch als Streams zur Verfügung, was zweifellos manche Vorteile hatte. Und doch war der Unterschied eklatant, wenn man zuhause im Kämmerlein mit den Filmen alleine war oder vor Ort mit Absicht oder per Zufall Kollegen und Kolleginnen über den Weg lief und nur auf diese Weise Neues und Wichtiges aus seinem Metier erfuhr. In Kinofoyers mussten Menschenansammlungen vermieden werden, was bedeutete, dass es das klassische Gedränge und Geplänkel in den Fluren der Festivalkinos kaum gab. Immerhin: Endlich gab es für anspruchsvolle Filme, die monatelang in der Verleihbüros verborgen blieben, wieder eine Startrampe und Scheinwerferlicht. Dass der Andrang auf den Festivals meistens nicht so groß war, wie erhofft, konnte durch die Faktoren Wiedersehensfreude und Medienaufmerksamkeit einigermaßen kompensiert werden. Jedoch: Unmittelbar nach den großen Premieren und Preisgewinnen war diese Freude schon wieder verpufft, den geholfen hat es den jeweiligen Filmen im Kinoalltag nicht. Eingeklemmt zwischen dem Überangebot, den Blockbustern und den Booster-Versprechungen fehlt den Verleihern derzeit schlicht die Chance, die Qualitäten ihrer Filme erfolgreich dem Zielpublikum schmackhaft zu machen – am ehesten noch im ‚geschützten Raum‘ der Filmfestivals. Doch auch diese finden in der Regel in Kinos statt und kämpfen daher genauso um die Rückgewinnung eines Teils ihres Publikums.
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Nun, da die Inzidenzen wieder senkrecht nach oben gehen, scheint es illusorisch, dass sich an diesen angespannten Verhältnissen innerhalb der nächsten vier bis fünf Monate spürbar etwas ändern wird. Schon drücken die bedrohliche Entwicklung und die Unsicherheit, wie gut das Geimpft-Sein schützt, die Besucherzahlen merklich weiter nach unten. Auf die Winterfestivals kommt ein schwerer Drahtseilakt zwischen Schutz und Show, zwischen Steifheit und Small-Talk-Sehnsüchten zu. Kaum vorstellbar, dass die Berlinale Mitte Februar noch einmal als Branchen-Streaming ohne direkten Austausch stattfinden sollte, ohne Schaden an ihrem Status als Startrampe für originelle Filme und als Super-Event zu nehmen. Eine penible Überprüfung nach den 2G-Reglen der internationalen Gemeinschaft wird unvermeidlich – wenn denn die Auslandsgäste sich überhaupt in den Hotspot Deutschland zu reisen trauen. Und eines kann die Berlinale nun gar nicht vertragen: Steifheit.
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Die sehenswerten Filme Le Prince und Toubab liefen beim Filmkunstfest MV, erreichten aber im Kinoalltag kein großes Publikum. | (C) Jörn Manzke
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Max-Peter Heyne - 16. November 2021 (2) ID 13299
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