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Der Boden unter den Füßen



Das Wettbewerbsprogramm der 69. Filmfestspiele in Berlin, in dem 19 Filme um den Goldenen und die Silbernen Bären konkurrieren, war während der ersten vier Tage durchweg sehenswert. Als positive Überraschung durfte dabei die österreichische Produktion Der Boden unter den Füßen der 1977 in Graz geborenen Regisseurin Marie Kreutzer gelten, dessen Story das eine oder andere Klischee befürchten ließ. Doch die Regisseurin bewies das richtige Gespür für Ambivalenzen, psychologische Differenzierungen und Zwischentöne. Schlussendlich rundete sich die Geschichte einer ehrgeizigen Karrierefrau, die unter eigenem und fremden Erfolgsdruck steht, zu einer vielschichtigen Parabel über die Möglichkeiten und Risiken von Frauen in einer postindustriellen Leistungsgesellschaft, deren Strukturen und Regeln ursprünglich von Männern aufgebaut wurden.

Im Mittelpunkt steht die in Wien lebende, aber in Rostock arbeitende Unternehmensberaterin Lola (wunderbar nuanciert gespielt von Valerie Pachner), die eine heimliche Beziehung mit ihrer Vorgesetzten Elise (stets rational und beherrscht: Mavie Hörbiger) führt. Ein weiteres Geheimnis in Lolas Leben ist die Existenz ihrer psychisch kranken Halbschwester Conny (Pia Hierzegger), die durch einen neuerlichen Suizidversuch Lolas vom Pendeln geprägten, durchgetakteten Arbeitsalltag durcheinanderbringt. Bei Lola und ihrer Rostocker Projektgruppe stehen wichtige Präsentationen bei einem großen Kunden an, die für alle Gruppenmitglieder einen Karriereschub bedeuten können. Daher schiebt Lola alle Sorgen und ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Schwester beiseite und versucht, weiter so reibungslos zu funktionieren wie immer. Doch die Verdrängung kommt zu einem Punkt, an dem Lola bereits so sehr vom Perfektionsdrang beherrscht wird, den ihre Freundin Elise, aber sie sich auch selbst auferlegt hat, dass die psychische Balance kaum mehr zu halten ist.

Wie Regisseurin Marie Kreutzer in Berlin sagte, illustriert sie damit die uns allen bekannte Angst, „nicht genug zu sein“. Sie illustriert pointiert, aber ohne Schwarz-Weiß-Schema, was diese Angst bzw. der Erfolgsdruck insbesondere Frauen abverlangt. Wie eine Kollegin vom Fernsehen es einmal ausdrückte: Als Frau müsse man viel geduldiger, aber doppelt bis dreifach so einsatzbereit sein wie Männer, um im Job ernst und anerkannt zu werden. Marie Kreutzer beschreibt das Bemühen von Frauen, sich in das Korsett männlichen Konkurrenz- und Karrierestrebens einzupassen, und dies so gut es eben geht, selbstbestimmt und mit "weiblicher" Attitüde zu tun. Gemessen an den Karrierestufen und Gehältern sind die beiden Geschäftsfrauen in dieser Story den Männern auf den Fersen. Doch der Preis dafür ist hoch: Sie drohen zu ebensolchen Charakterschweinen zu werden wie ihre männlichen Kollegen. Und neben der Moral droht auch das seelische Gleichgewicht und die physische Gesundheit Schaden zu nehmen.

Dies entbehrt angesichts der aktuellen Debatten um Quoten und verordnete Paritäten – die auf der Berlinale eine große Rolle spielen und inzwischen auch zu schriftlich fixierten Absichtserklärungen geronnen sind – nicht einer Pikanterie: Was ist die Gleichstellung der Geschlechter wert, wenn sie auf männlich etablierte Scheinmoral, Gewissenlosigkeit, Selbstaufgabe und Korruption basiert? Ist es dann noch wert, sich aufzuopfern? Oder ist es Frauen vergönnt, diese männlich etablierten Strukturen aufzuweichen, gar zu ändern? Wenn, das zeigt Der Boden unter den Füßen eindringlich, stehen wir – auch als westliche Gesellschaften – noch ziemlich am Anfang.

Marie Kreutzer zumindest darf für sich die Lorbeeren in Anspruch nehmen, einen der wenigen Filme inszeniert zu haben, der aus betont weiblicher Perspektive – das meint die Entlarvung männlichen Chauvinismus ebenso wie die Fragilität weiblicher Alternativangebote – zeitgenössische gesellschaftliche Fehlentwicklungen wie die Entgrenzung von Privat- und Berufsleben glaubwürdig, unterhaltsam und spannend behandelt zu haben. Karrierefrauen am Rande des Nervenzusammenbruchs waren zuerst ausgesprochene Komödienthemen in von Männern gedrehten Filmen, vor allem in US-amerikanischen Produktionen wie Nachrichtenfieber - Broadcast News (Berlinale 1987) oder Die Waffen der Frauen (Working Girl, 1988). Marie Kreutzers Film ist deutlich ernster, aber die Zeiten sind es ja auch.

Bewertung:    



Der Boden unter den Füßen | (C) Novotnyfilm 2019 Foto: Juhani Zebra

Max-Peter Heyne - 11. Februar 2019
ID 11214
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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