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BERLINALE

WETTBEWERB

Grâce à Dieu



Am zweiten Tag der Berlinale liefen mit dem Spielfilmdebüt Systemsprenger der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt (Ohne diese Welt) und dem neuesten Werk von Frankreichs Ausnahmetalent und Berlinale-Dauergast François Ozon (8 Frauen, Jung und schön, Frantz), Grâce à Dieu, zwei sehenswerte, aufrüttelnde Filme, die inhaltlich miteinander korrespondierten. Der direkte Vergleich fiel zuungunsten des durchaus überzeugend inszenierten Systemsprenger aus. Denn welche tiefen seelische Narben kindliche Traumata verursachen, vermochte Ozon noch vielschichtiger und wendungsreicher illustrieren als Fingscheidt, die sich allerdings auch nur auf einen speziellen Fall fokussierte.

Ozon hingegen nahm sich eines brandaktuellen Skandals um sexuellen Missbrauch an, die der Lyoneser Priester Bernard Preynat in den 1970er und 1980er Jahren an 70 ihm anvertrauten Jungen beging. Da der Skandal juristisch noch nicht abgeschlossen ist und Ozon den schuldigen Priester und dessen wegen Vertuschung angeklagte Vorgesetzte, darunter Kardinal Philippe Barbarin, ebenso wie die meisten Opfer beim Klarnamen nennt, schlägt die Aufführung des Films hohe Wellen. Der Anwalt Preynats spricht von einer Vorverurteilung durch die Darstellung und versucht den Kinostart in Frankreich zu verhindern. Auch die Berlinale-Aufführung war dadurch gefährdet.

François Ozon betonte bei der Pressekonferenz, er sei optimistisch, was die Kinoaufführung seines Filmes betrifft. Denn Preynat hat die Taten schon vor längerer Zeit zugegeben (eine entsprechende Szene auf einem Polizeirevier findet sich auch im Film) und die Medien haben entsprechend darüber berichtet, sodass sein Film nichts zeige, was nicht bereits bekannt sei. Die Produzenten wiesen darauf hin, dass die Finanzierung des Films wegen des Themas sehr schwierig gewesen sei und niemand erwartet hatte, dass sich die Ermittlungen und der Gerichtsprozess noch bis weit über die Dreharbeiten hinziehen würden. Erst im März soll es ein Urteil geben, obwohl der Skandal schon 2015 publik wurde.

*

Die von einer Hauptfigur zur nächsten wechselnde Erzählweise der Geschichte basiere auf der tatsächlichen Chronologie der Ereignisse, sagte François Ozon in Berlin: Zunächst steht der als Bankmanager erfolgreiche, fünffache Familienvater Alexandre (Melvil Poupaud) im Mittelpunkt, der es nicht fassen kann, dass der Priester, der ihn als Achtjährigen zu sexuellen Handlungen nötigte, in der Diözese Lyon noch immer für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verantwortlich ist. Alexandre, dessen Glaube nicht grundsätzlich erschüttert wurde und der äußerlich funktioniert, spürt den Drang, zu verhindern, dass sich Preynat an weiteren Kindern vergreifen kann. Wütend, aber stets rational und besonnen handelnd, wendet sich Alexandre mit Engelsgeduld zunächst an die kirchlichen Würdenträger, muss aber nach über einem Jahr Zuwarten feststellen, dass Preynats Vorgesetzte kein sonderliches Interesse daran haben, ihrem Glaubensbruder das Amt zu entziehen.

Nachdem Alexandre schließlich doch eine Anklage an die Staatsanwaltschaft geschickt hat, kommen andere ehemalige Opfer des pädosexuellen Priesters ins Spiel. Der bullige François (Denis Ménochet) hat die schlimmen Erinnerungen verdrängt und zunächst gar kein Interesse, sich der Polizei zur Verfügung zu stellen. Angesichts des ständigen Damoklesschwerts einer Verjährung der Verbrechen wird aber gerade er zu einem der hartnäckigsten Gegner der kirchlichen Vertuschungsversuche. Er gründet mit anderen Betroffenen den Verein „La Parole Libérée“ („Das befreiende Wort“), der den vielen Opfern Gehör verschafft und die Anklage gegen Preynat forciert.

François Ozon schildert den Kampf der Davids gegen Goliath – wie es eine Opferanwältin an einer Stelle sagt, „gegen eine mächtige und jahrhundertealte Institution“ – und die sich entwickelnde Skandallawine anhand einer Vielzahl kurzer Einzelszenen (Montage: Laure Gardette). Sie illustrieren auch die psychischen Belastungen der ehemals Missbrauchten und den Streit mit ihren Familien bzw. Menschen in ihrem Umfeld. Selbst innerhalb des Opfervereins kommt es zu Konflikten über das Wie. Ähnlich wie die zur Sachlichkeit und strategischem Handeln mahnenden Mitglieder des Vereins, versucht auch Ozon Polemik und Provokation zu vermeiden, sondern konzentriert sich auf die Nachstellung der Fakten – inklusive des Zitierens aus der Korrespondenz zwischen Opfern und klerikalem Klüngel.

Besonders nachdenklich macht in Ozons Werk der Aspekt, dass der Glaube an den positiven Einfluss kirchlicher Autoritäten auch in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft wie der französischen über Jahrhunderte so tiefe Wurzeln geschlagen hat, dass selbst etliche Angehörige der Missbrauchsopfer der Institution Kirche mehr Vertrauen schenken als dem Wort der eigenen Kinder oder Verwandten. Ein charismatischer Priester, der sich noch dazu gut verstellen kann, galt vielen Gläubigen auch nach Aufdeckung seiner Verbrechen als sakrosankt. Da es keine kirchlichen Kontrollinstanzen gab, kann dieser Glaube quasi zum Verdrängen und Vertuschen genutzt werden.

Es gab viel Applaus, aber wie meisterlich François Ozon die Handlung dieses Films komprimiert und komponiert hat, um die Gesellschaft für das Thema Missbrauch zu sensibilisieren, werden wir vielleicht erst am Ende des Festivals so richtig zu schätzen wissen.

Bewertung:    
Max-Peter Heyne - 9. Februar 2019 (2)
ID 11205
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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