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BERLINALE

WETTBEWERB

Di jiu tian chang
(So Long, My Son)



Neben der festivalüblichen Debatte, ob man Netflix-produzierte Filme unter bestimmten Umständen zeigen darf – kam zur Hälfte der Berlinale ein Aufreger: Die Volksrepublik China hatte angekündigt, ihren zweiten Wettbewerbsfilm nicht zeigen zu können. Offiziell heißt es, der neue Film des weltweit anerkannten Regisseurs Zhang Yimou (Rote Laterne, Hero) sei aus technischen Gründen nicht rechtzeitig fertig geworden. Yimou hat schon seit Jahrzehnten immer wieder mit Zensurmaßnahmen zu kämpfen, und das Thema Kulturrevolution wird in der kommunistischen Volksrepublik lieber gemieden bzw. nicht aufgearbeitet.

Tröstlich indes: Auch der zweite Film aus China, Di jiu tian chang (So Long, My Son), von Regisseur Wang Xiaoshuai, behandelt die verheerenden Folgen der so genannten "Großen Proletarischen Kulturrevolution", die Staatsführer Mao Tse-tung von 1966 bis zu seinem Tod 1976 betrieben hat, und es war ein bravouröser Abschluss des ohnehin starken Wettbewerbsprogramms der 69. Berlinale. Waren also gleich zwei Wettbewerbsbeiträge zur Vergangenheitsbewältigung den chinesischen Kulturbürokraten ein bisschen zu viel des Heiklen, und sie haben deshalb einen der beiden Filme nicht zur Berlinale geschickt? Das muss Spekulation bleiben.

*

Der wunderbare Film von Wang Xiaoshuai musste jedenfalls zu den Preisträgern gehören. Dass am Ende die beiden Hauptdarsteller Silberbären bekamen, ist hochverdient, vermutlich aber ein Kompromiss der sechsköpfigen Jury, nachdem andere heiße Kandidaten schon bedacht worden waren und nicht mehr viele Bären übrigblieben.

Auch der Drehbuch- oder Regiepreis wären sehr gerechtfertigt, denn Wang Xiaoshuais Film ist ein elegant inszeniertes, kunstvoll verschachteltes Epos, dessen Rückblenden ihre Aufgabe perfekt erfüllen, indem sie neue Informationsbausteine zu den gesellschaftspolitischen Verhältnissen und zum Verständnis der Figuren liefern. Deshalb wirken auch die drei Stunden Laufzeit des Films nicht zu viel bzw. langatmig. Wang Xiaoshuai schlägt einen großen Bogen vom Ende der 1970er Jahre bis in die Gegenwart anhand der Schicksale von drei befreundeten Ehepaaren, allesamt Arbeiter und Arbeiterinnen in einer Maschinenfabrik. Eine der Frauen, Li Haiyan (Ai Liya) ist zudem Funktionärsträgerin der Kommunistischen Partei und soll die Regeln, die von oben bestimmt werden, auf lokaler Ebene durchsetzen.

Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Liu Yaojun (Wang Jingchun), und Wang Liyun (Yong Mei), die zusammen mit tausenden anderen Arbeitern in engen, schäbig eingerichteten Arbeiterunterkünften am Rande Shanghais wohnen. Gerade einmal ein Zimmer ist für ganze Familien vorgesehen. Eines Tages muss das sich aufrichtig liebende Paar den Tod ihres einzigen Kindes verkraften, das bei einem Badeunfall zu Tode kommt. Nun erweist es sich als verheerend, dass Li Haiyan in das Privatleben der Anderen hineinregiert hat. Sie hat als Funktionärin Jahre zuvor bei Wang Liyun eine Abtreibung wegen der strikten Umsetzung der offiziellen Ein-Kind-Politik der 80er und 90er Jahre in China erzwungen. Dies wird nun zum Auslöser einer zunehmenden Entfremdung, vor allem aber seelischer Krisen, die alle Beteiligten treffen – nicht zuletzt Li Haiyan selbst.

Was die repressive Ära der Kulturrevolution mit ihren strikten Verboten und Bestrafungen auch lange nach Maos Tod noch für die Einzelnen bedeutete, illustriert Regisseur Xiaoshuai an kleinen, aber eindringlichen Szenen: Heimlich feiert man zu westlicher Disco-Musik (Boney M!) – immer in Angst vor Denunziation. Einer der Arbeiter, der offensichtlich bei so etwas ertappt wurde, wird im Gefängnis besucht, wo er vor den Freunden unter Aufsicht die gewünschten Parteiphrasen von sich gibt. Massenentlassungen werden im Militärjargon als Folge von feindlichen Einflüssen anderer Staaten gerechtfertigt.

Liu Yaojun und Wang Liyun entschließen sich aufgrund der persönlichen und wirtschaftlichen Krisen zur Flucht aus ihrer Heimat in eine andere Region. Sie adoptieren einen kleinen Jungen, der sich aber als Pubertierender von ihnen abwendet bzw. gegen das alte China, das seine Eltern verkörpern, rebelliert. In den letzten Sequenzen verdeutlicht Regisseur Xiaoshuai, wie sich innerhalb eines halben Menschenlebens die Städte Chinas so radikal verändert haben und weiter verändern, dass die ältere Generation sie schlichtweg nicht mehr wiedererkennt. Die Preisgabe bestimmter kommunistischer Ansprüche zeitigt 50 Jahre nach Maos viel beschworenem, aber letztlich gescheiterten "Sprung nach vorn" ein gigantisches Umkrempeln der Lebensverhältnisse. Die Propaganda und Mao Denkmäler sind Reste einer politisch unzureichend aufgearbeiteten, buchstäblich niedergerissenen und planierten Epoche, die mit Menschen wie Liu Yaojun und Wang Liyun verschwinden wird.

Ein kraftvolles Werk, dessen emotionale Wirkung sich der Sensibilität des Drehbuchs (A Mei und Wang Xiaoshuai) verdankt, das alle Figuren und ihre Sehnsüchte, Verletzlichkeiten und Schwächen ernst nimmt und mit großem Respekt behandelt.

Bewertung:    



Di jiu tian chang (So Long, My Son) | (C) Li Tienan / Dongchun Films

Max-Peter Heyne - 17. Februar 2019
ID 11228
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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