71. Internationale Filmfestspiele Berlin
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Wettbewerb
Wheel of Fortune and Fantasy
Forest – I See You Everywhere
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Ein weiterer, auffälliger Trend der diesjährigen BERLINALE, und das nicht nur im Wettbewerbsprogramm, ist die Behandlung der Filme wie Literatur. In vielen Fällen starten die Filmschaffenden mit einem eingeblendeten Gedicht, lesen Texte oder kommentieren das Geschehen aus dem Off und teilen den Film in Kapitel bzw. Abschnitte ein. Das schien der diesjährigen Jury zu gefallen, was nicht überraschen kann, da sie selbst durchgehend aus Autorenfilmern bestand.
Der Gewinner des Silbernen Bären als Großer Preis der Jury, quasi der 2. Platz, Wheel of Fortune and Fantasy (Guzen to sozo) des japanischen Regisseurs Ryusuke Hamaguchi ist in drei Episoden unterteilt, die jeweils um eine oder zwei Frauenfiguren kreisen, die an einem Schnittpunkt ihres Lebens stehen, auch wenn sich dies zunächst weder für sie noch die Zuschauer so anfühlt. Erst im Verlauf der Episoden, die wiederum in je drei Abschnitte unterteilt sind, offenbart sich die Tragweite der Handlungen und Emotionen. Einmal muss eine junge Frau erkennen, dass sie unverhofft Teil einer Dreiecksbeziehung geworden ist. In der zweiten Episode liest eine junge Studentin scheinbar zurückhaltend, tatsächlich aber mit provokativer Absicht, ihrem Lehrer einen obszönen Text vor, den er selbst verfasst hat, und im dritten Teil treffen zwei Frauen zufällig aufeinander, die nur glauben, dass sie sich bereits kennen (oder doch?). Die letzte Episode überzeugt als charmante Reflexion über das Phänomen Zufall und weist am stärksten über den geschilderten Einzelfall hinaus.
Der japanische Regisseur erzählt diese Kurzgeschichten unter Einhaltung der Raum-Zeit-Klammer nahezu durchgehend in halbtotalen Einstellungen mit ruhiger Kamera, die das stoische Verhalten seiner Protagonisten zu adaptieren scheint. Leider nutzt Hamaguchi auch andere filmische Stilmittel, die sich zur Akzentuierung der Dialoge durchaus angeboten hätten, nicht. Ausleuchtung, Kamerabewegungen, Schnittrhythmus bleiben nahezu unterschiedslos durch alle Episoden unterkühlt. „Dort, wo Dialoge und Wörter für gewöhnlich aufhören, fangen die Dialoge dieses Films erst an. Hier gehen sie in die Tiefe, so tief, dass wir uns erstaunt und besorgt fragen: Wieviel tiefer geht es noch?“ Meine Antwort auf diese Begründung der Jury: Es hätte für den Zuschauer durchaus noch tiefer gehen können, wenn Hamaguchi gewollt hätte. So funktioniert sein Film auch als Hörspiel.
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Wheel of Fortune and Fantasy | © 2021 Neopa/Fictive
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Bewertung:
Auch einer der beiden ungarischen Wettbewerbsbeiträge, Forest – I see you everywhere (Rengeteg – mindenhol látlak) vom Autorenfilmer Bence Fliegauf (Just the Wind, Silberner Bär 2012) ist ein kammerspielartiger Episodenfilm, der sich auf Gesprächssituationen konzentriert und nur wenige filmische Mittel einsetzt. Wo Hamaguchi Halbtotalen bevorzugt, entscheidet sich Fliegauf für halbnahe Einstellungen und klebt nahezu an den Gesichtern der Protagonisten. Auch Fliegauf nutzt die Zweierkonstellationen in seinen sieben Episoden als Aufhänger, um grundsätzliche Fragen wie den Umgang mit Schuld, Verantwortung, Angst, Glauben und Anziehung aufzuwerfen. Er würzt die Konflikte und Streitereien mit deutlich mehr Biss als sein japanischer Kollege, aber insgesamt beschränkt sich auch Fliegauf auf die Präzision seiner Dialoge und die Professionalität seiner Schauspieler*innen, die diese authentisch vortragen.
Interessante Aspekte sind durchaus vorhanden, wenn beispielsweise ein Scharlatan Kranken einen Ausweg aus ihrem Leid aufzeigt, der letztlich ein tödlicher Betrug ist. In dieser Episode wird am stärksten deutlich, wie Menschen manipuliert werden können, weil sie Gesagtes gerne in ihrem Sinne auslegen. Überhaupt verweisen die Miniaturen immer wieder auf die Unzulänglichkeiten von Sprache als Kommunikationsmittel, wenn z.B. die Gesprächspartner*innen sich emotional auf einem anderen Niveau befinden.
Dass die mitmenschlichen Konflikte also aus dem Leben gegriffen sind, ist der Vor- wie Nachteil des Films: Menschen beim Streiten zuzusehen wirkt auf die Dauer redundant und ermüdend, zumal auch hier besondere Stilmittel Fehlanzeige sind. Schade, dass Fliegauf nach seinen Erfolgen auf diversen Filmfestivals nicht den Mut findet, seinem eigenen Ansatz auch einmal untreu zu werden. Eine hervorragende Entscheidung ist allerdings die Wahl von Nachwuchstalent Lilla Kizlinger als Gewinnerin des Nachwuchsdarsteller*innen-Preises, der ebenso wie der für eine Hauptrolle seit diesem Jahr nurmehr geschlechtsneutral vergeben wird. Kizlinger, die in dem Film einen harten Konflikt mit ihrem Vater ausficht, bringt Schwung und Leidenschaft mit ein, die nicht nur die erste Episode, sondern den Film insgesamt bereichert. Fürs große Publikum sind beide Filme nicht gemacht.
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Forest – I See You Everywhere | © Ákos Nyoszoli, Mátyás Gyuricza
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Bewertung:
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Max-Peter Heyne - 6. März 2021 ID 12787
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de/
Post an Max-Peter Heyne
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