Unsere neue Geschichte (Teil 42)
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Bobo ist die Kurzform für "bourgeoiser Bohemien", das der Bergbauer Christian Bachler in einem viel beachteten Video als Schimpfwort verwendete. Ziel seiner Attacke auf Facebook war der österreichische Chefredakteur Florian Klenk, der in einem Artikel ein umstrittenes Schadenersatzurteil gegen einen Bauern guthieß. Der Bobo habe keine Ahnung, entrüstete sich der Landwirt und lud ihn ein mal ein Praktikum bei ihm zu machen. Der Journalist war von den 250.000 Aufrufen des Videos beeindruckt, weshalb er sich darauf einließ und sich zum höchstgelegenen Bergbauernhof der Steiermark aufmachte. Aus der Begegnung der einstigen Kontrahenten erwuchs eine ungewöhnliche Freundschaft, die der Filmemacher Kurt Langbein in Der Bauer und der Bobo filmisch festhielt. Daraus ist eine unterhaltsame Dokumentation entstanden, in der zwei unterschiedliche Positionen und Persönlichkeiten aufeinander treffen und auf herrlich beredte und witzige Art einen Überblick über die Dilemmata der Landwirte und der Berichterstatter ermöglichen.
Die Landschaftaufnahmen und die Bilder der tiergerecht gehaltenen vielfältigen Tierschar sind herzerwärmend. Ein eigensinniges Pferd, ein gelassener Hofhund, verfressene Kühe, verschmuste Schweine, emsiges Federvieh und ganz oben im Gebirge sogar eine Herde von Yak-Rindern zeugen von einer umfassenden und nachhaltigen Landwirtschaft und Viehhaltung, die es heute kaum noch gibt. Der Film beginnt mit einem kleinen Almabtrieb, bei dem die Rinder auf einem unasphaltierten Gehweg unterwegs sind, und stellt eine Situation nach, die zu dem Urteil gegen den oben erwähnten Bauern führte. Eine seiner Kühe hatte einen Hund angegriffen, um ihr Kalb zu schützen, wobei entsetzlicherweise eine junge Frau und Mutter ums Leben kam. Klenk hatte in seinem Wochenmagazin Falter der Familie Recht gegeben und das Urteil zu deren Gunsten begrüßt, während Bachler nur eine Teilschuld des Landwirts erkennen kann, denn ein großer Hund/Wolf ist eine Bedrohung für eine Mutterkuh. Das Urteil wurde in höherer Instanz auch entsprechend angepasst.
Die Dokumentation ist aber überwiegend heiter. Bachler sagt, dass er steinreich sei, weil er steinreiche Böden hat, die sich nicht dem Pflug bearbeiten lassen. Außerdem seien seine Schweine hightech und vollautomatisch: vorne ein Pflug (alias Rüssel) und hinten eine Düngeautomatik. Doch wie es wirklich in ihm aussieht, zeigt er nicht. Klenk, der nie Existenzangst ausstehen musste, erfährt mehr und mehr von den Problemen der Landwirte, den oft nicht nachvollziehbaren und behindernden EU-Verordnungen, dem Schulden-Sog, den Schwierigkeiten wegen der Trockenheit und Nahrungssicherung. Dann wird ihm klar, dass der witzig-ironische Wutbauer kurz davor steht, sich das Leben zu nehmen. Die Schulden belaufen sich 420.000 Euro. Da hat er keine Chance das wieder hinzubiegen. Er musste den Hof als sehr junger Mann übernehmen, nachdem sein Vater unerwartet verstorben war, doch obwohl er in seiner Aufgabe aufgeht, kann er den Hof nicht halten.
Das Grundstück ist rund 2 Millionen Euro wert, bei der Versteigerung will man mit 500.000 Euro beginnen und peilt Einnahmen in der Höhe von 900.000 Euro an. Der Hof an sich wird als wertlos eingestuft. Das ruft Florian Klenk auf den Plan, der nun seine Fähigkeiten als „Bobo“ einsetzen kann. Ihm ist klar, dass die Banken nicht helfen werden, denn sie profitieren ja davon, so setzt er eine Crowdfunding-Aktion in Gang, um den Hof zu retten, und die Resonanz ist überwältigend.
Eines Tages tritt Bachler zum Gegenpraktikum in der Redaktion des Falter-Magazins an. Die Stadt ist nicht sein Ding. Ja, er kann die Aussicht vom Riesenrad auf das nächtliche Wien genießen, aber die Redaktionssitzung und die umfangreichen Aufgaben dort entsprechen nicht seinem Wesen. Trotzdem hat ihm der „Ober-Falter“ durch gerade diese Fähigkeiten vor dem Ruin bewahren können. Bei dem Wutbauern lohnt es sich übrigens, auf die Beschriftung seiner Sweatshirts zu achten: in Wien lautet sie „Ackerdemiker mit Niveau“.
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Der Film verzichtet auf Statistiken und Zahlen und doch kommt in diesem einen Fallbeispiel alles vor. Die durch verheerende Verordnungen erzeugte Not der Landwirte, das Höfesterben, die hohe Anzahl von Landwirten unter den Suizidfällen, die Probleme der Direktvermarktung, der Neid herkömmlicher Landwirte auf die innovativen Kollegen, die bäuerliche Romantik auf Bachlers Hof, die Schrecken und Grausamkeiten der Massentierhaltung auf einem anderen Hof, die Proteste der Tierschützer.
Selbst die schlimmen Zustände in den Schlachthöfen werden thematisiert, aber nicht bebildert. Langbein zeigt aber, wie Bachler ein Schwein schlachtet. Er geht zu ihm auf die Wiese, wo es sich tätscheln lässt, und betäubt es dann. Dann öffnet er die Halsschlagader. Während das betäubte Tier ausblutet, bleibt er bei ihm. Das dauert zwei bis zweieinhalb Minuten. Die anderen Schweine bekommen nichts davon mit, und weder sie noch das betäubte Tier geraten in Panik. Bachler ist klar, dass das Schlachten schlimm ist, aber er erklärt Klenk, dass in den Schlachthöfen die Tiere mitunter nicht richtig betäubt sind, wenn sie ausgeblutet werden, dann geschieht es auch mal, dass sie bei Bewusstsein ins heiße Wasser geworfen werden. Das kann bei ihm nicht passieren, das Schwein stirbt praktisch in seinen Armen.
Bachlers Hof ist noch in Betrieb, und der Landwirt hat viele Ideen. Er würde gerne das Internet zur Vermarktung nutzen und sich mit anderen Bauern vernetzen, aber leider ist es noch verbreitet, die Konkurrenz als Todfeind zu betrachten, „solange man sich nicht bewegt, spürt man die Ketten nicht“, sinniert er. Seit er sich aber gemeinsam mit seinem nunmehr „Lieblings-Bobo“ für die Nachhaltigkeit einsetzt und sie die Unterstützung der Social-Media-Community haben, geht es ihm wieder besser. Klenk überlegt zum Schluss, woran Bachlers Beliebtheit liegen mag: Zum einen ist da sicher eine romantisierte Vorstellung vom Landleben, das bei Bachler noch sichtbar ist, vermutlich aber auch ein Ärger über die Politik, die Landwirte dermaßen in die Enge treibt. Auch bekommen wir jetzt leider immer stärker zu spüren, was auf uns zukommt, wenn Betriebe und der Mittelstand zusammenbrechen und die Ernährungssicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Wir sind auf die Landwirte und Landwirtinnen für unser Überleben angewiesen.
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Wutbauer Christian Bachler, seine Mutter, und der Chefredakteur Florian Klenk (re.) sprechen über die Notlagen der Landwirte |© 24 Bilder
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Helga Fitzner - 29. September 2022 ID 13824
Weitere Infos siehe auch: https://www.24-bilder.de/filmdetail.php?id=908
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