UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 51)
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Film als
allgemeines
Intelligenzmittel!
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Bewertung:
Film und Fernsehen sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, und angesichts der Allgegenwart von gefilmten Bildern ist es schon seltsam, dass das Fach Film/Filmästhetik an unseren Schulen gar nicht existiert. Der Pionier des deutschen Autorenfilms Edgar Reitz wagte im bewegten Jahr der Studentenrevolte 1968 einen Vorstoß, dem Abhilfe zu schaffen. In einem vierwöchigen Kurs brachte er 13- bis 14jährigen Schülerinnen des Münchener Luisengymnasiums die Grundlagen des Filmemachens bei und ließ sie mit Super-8-Kameras eigene kleine Filmprojekte verwirklichen. Der damals 35jährige Mitbegründer und Dozent der Hochschule für Gestaltung Ulm ging davon aus, dass jeder Mensch Filme machen und jedes Kind das lernen könne, was er mit seinem Dokumentarfilm Filmstunde auch bewies.
Über 50 Jahre später sprach ihn nach einer Veranstaltung eine der ehemaligen Schülerinnen an und erklärte ihm, dass viele Mitglieder der damaligen Schulklasse sich noch treffen und über Filme austauschen. Durch das Filmprojekt war ein außergewöhnlicher Zusammenhalt unter den Mädchen entstanden. Im Jahr 2023 realisierte der mittlerweile über 90jährige Reitz zusammen mit dem Medienwissenschaftler und Filmemacher Jörg Adolph den Folgefilm Filmstunde_23, in dem Ausschnitte aus der alten Produktion und Interviews mit etlichen der Protagonistinnen insgesamt 55 Jahre später geführt werden. Dieser beginnt mit einem Zitat des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balász: „Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“ Im Jahr 1968 und heute erst recht, wird mehr ferngesehen als Bücher gelesen werden.
Reitz erklärte damals den Schülerinnen nicht nur die Prinzipien des Filmens, sondern ließ sie selber entsprechende Erfahrungen machen. Man macht einen Film so, wie andere Leute Bücher schreiben, aber mit filmsprachlichen, also visuellen Mitteln. Er diskutiert mit der Klasse Fragen, wie man mit filmischen Möglichkeiten etwas ausdrücken, wie man durch Filme etwas bewusst machen kann, damit der Film eines Tages eine mit der Literatur vergleichbare menschliche Sprache wird. Dabei reicht es nicht, einfach die Kamera anzumachen und etwas abzubilden, der eigentliche Dreh steht erst am Ende eines Entwicklungsprozesses, in dem eine Geschichte ersonnen und der Einsatz der Inhalte, Kameraeinstellungen, ja die ganze Umsetzung vorher festgelegt wird. Es liegt in der Natur des Mediums, dass es immer eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Menschen ist, wodurch ein „kollektives Fluidum“ entsteht.
Im Unterricht kommen Fragen auf: Gibt es eine Möglichkeit, den Zuschauer zum Denken zu bewegen? Ist das von Reitz favorisierte Autorenkino, bei dem der Autor auch als Regisseur fungiert und alle Fäden in der Hand hält, die beste Alternative? Im Film kann man auch das Unverwechselbare wiedergeben, was man mit Worten nicht beschreiben kann. Aber wie? In Gesprächen bringt Reitz die eigentlichen Interessen der Mädchen zum Vorschein, die zuvor von Klischees überdeckt waren. Sie wurden gefragt, wie es ihnen geht, wie sie im Leben stehen, welche Erwartungen sie haben. Das kannten sie nicht. Gerade Mädchen hatten zu funktionieren und waren Teil der Leistungs- und Konsumgesellschaft. Für sie war es neu, dass sie nach ihren Gedanken und Gefühlen gefragt wurden. So sind alle 26 Kurzfilme, die sie nach dem Modell der Autorenfilme drehten, sehr persönlich geworden und stammten aus ihrem eigenen Erfahrungsbereich. (Heute gibt es Abermillionen von Amateuren, die allein mit ihren Mobiltelefonen Aufnahmen machen. Da gibt er erstaunliche Talente, aber auch einige, denen diese Filmstunde von Edgar Reitz nützlich sein könnte).
Einer der Filme zeigt alte Menschen auf dem Münchener Viktualienmarkt. Es ist die Generation, die zwei Weltkriege erlebt hat. In einem anderen ist ein Verkehrspolizist zu sehen, der mitten auf der Straße den Verkehr regelt. In einer Druckerei wird der Drucksatz noch mit Lettern aus Blei hergestellt, was ein anspruchsvolles Handwerk war. So haben Schülerinnen der achten Klasse interessante Zeitdokumente geschaffen. Reitz wundert sich heute:
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich Menschen früher erinnert haben, als es noch nicht den Film gab. Unsere Lebenszeit hat einen Wertzuwachs bekommen durch den Film. Die Endlichkeit aller unserer Erfahrungen wird relativiert durch den Film.“
Nach Reitz sollte Film ein allgemeines Intelligenzmittel werden, eine allgemeine menschliche Sprache (ungeachtet jener Kritiker, die ihn auch als Mittel zur Verdummung einschätzen). Beim abschließenden Elternabend 1968 erklärt eine Mutter, dass die Kinder vorher im Fernsehen alles für bare Münze genommen, aber durch die Filmstunden eine kritische Einstellung bekommen hätten. Schließlich wüssten sie seitdem, wie es gemacht wird. Reitz wollte mit dem ersten Film erreichen, dass in Deutschland in jeder Schule Filmunterricht gegeben wird. Viele andere hätten das nach ihm auch versucht, seien aber ebenfalls gescheitert.
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Der Filmemacher und Dozent Edgar Reitz unterrichtete im Jahr 1968 eine Mädchenklasse in Film | © Thomas Mauch
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Helga Fitzner - 8. Januar 2025 ID 15093
https://www.realfictionfilme.de/filmstunde-23.html
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