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UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 48)

Der Natur

ihren Lauf

lassen



Bewertung:    



Es war der Mut der Verzweiflung, der den Baronet Charles Burrell zu radikalen Maßnahmen veranlasste. Er hatte als junger Mann das unweit von London gelegene Landgut Knepp geerbt, dessen Land- und Viehwirtschaft schon lange keinen ausreichenden Ertrag mehr erbracht hatte. Siebzehn Jahre lang hatten er und seine Ehefrau Isabella Tree sich mit dem nahezu leblosen Boden abgeplagt, bis ihre Schulden auf anderthalb Millionen Pfund angehäuft waren. Sie hatten es mit der konventionellen Landwirtschaft versucht, aber die Pestizide hatten das zerstört, was an lebenserhaltenden Systemen der Bäume und Pflanzen noch übrig gewesen war. „So wird der Boden am Ende zu Dreck ohne organisches Leben“, schildert die Autorin und Journalistin Tree: „Dann braucht man (teuren) Dünger, um überhaupt etwas anbauen zu können.“

Der Film Wildes Land – Die Rückkehr der Natur von Regisseur David Allen basiert auf dem (fast) gleichnamigen Buch-Bestseller von Isabella Tree, in dem sie diese Erlebnisse schildert.

Ende der 1990er Jahre standen sie vor dem Aus. Die Burrells hörten zu dieser Zeit aber von dem Ökologen Frans Vera, der in den Niederlanden das umstrittene Renaturierungsprojekt Oostvaardersplassen initiiert hatte. Er war erfolgreich damit, und er zweifelte den seit rund 200 Jahren bestehenden Mythos an, dass Europa früher aus einem flächendeckenden Primärwald mit einem dichten Blätterdach bestanden hätte. Er war überzeugt davon, dass die großen Tierrassen, wie Auerochsen, Hirsche, Wildpferde und andere den Baumwuchs unter Kontrolle gehalten und sich neben den Wäldern verschiedene weitere Biotope gebildet hatten, und genau das geschah, als er große Tierrassen in einem ausgelaugten Areal auswilderte und die Natur sich selbst überließ.

Charles Burrell und Isabella Tree hatten nichts zu verlieren. Sie rissen bis auf die Begrenzungszäune ihres Landguts alle Zäune ab und wilderten Rinderarten und Schweinearten aus, die ihren wilden Vorfahren noch am ähnlichsten waren, hinzu kamen Hirsche und einige robuste Exmoor-Ponys. Nun blieb ihnen nur übrig, jahrelang abzuwarten und zu schauen, wie sich die Dinge entwickeln würden. Derweil dient das Landschloss und dessen Umgebung als Veranstaltungsort, z.B. für Polospiele.

Charles Burrell untersuchte regelmäßig die Kuhfladen auf Insekten und sammelte und dokumentierte diese. Es kam zu kleinen, anfangs fast unsichtbaren Veränderungen, später entstanden aus dem Kuhmist „Universen des Lebens“, wie Charles Burrell es beschreibt. Die Schweine lockerten bei der Nahrungssuche den Boden auf, und durch das Gewicht der großen Tiere entstanden Vertiefungen im Boden, die kleine Biotope bildeten. Das unterirdische Netzwerk der Mykorrhiza-Pilze erholte sich, und die Symbiose kam wieder in Gang. Diese Pilze sammeln verschiedene Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor aus dem Boden und stellen diese einer Pflanze zur Verfügung, die im Gegenzug das Photosyntheseprodukt Zucker an den Pilz abgibt, der diesen nicht selber bilden kann. Diese Pilze erlauben den Pflanzen miteinander zu kommunizieren.

Der Boden erholte sich allmählich, und Pflanzen begannen zu sprießen, sodass verschiedene Populationen von Insekten Nahrung hatten. Der selten gewordene Große Schillerfalter wurde dort heimisch. Eines Tages war der Umschwung laut und deutlich zu hören: Die Nachtigallen und andere Vogelarten siedelten sich auf dem wieder erblühenden Knepp-Gut an. Die vom Aussterben bedrohten Turteltauben fanden sich ein und brüteten. Aber als die Burrells ihre Erfolge den umliegenden Landwirten vorstellten, waren diese still und skeptisch anstatt dies als Sensation zu feiern. Das Paar wurde sogar angefeindet und als unverantwortlich bezeichnet, weil sie die Tiere sich selbst überlassen, dabei tat und tut es alles, um die behördlichen Auflagen zu erfüllen. Aber sie ließen sich nicht entmutigen. Nach zehnjährigen Verhandlungen mit den Ämtern durften sie Biber von einer Aufzuchtstation auswildern, die seit 400 Jahren in freier Natur als verschwunden gelten. Biber haben außerordentliche Fähigkeiten in der Landschaftsgestaltung von Gewässern und tragen dazu bei Überschwemmungen zu verhindern und die Artenvielfalt wiederherzustellen.

Unverdrossen wilderten die Burrells nach langen behördlichen Verfahren auch Weißstörche aus, und nach 600 Jahren brüteten diese erstmals wieder frei auf der Insel. Die in Gefangenschaft gezüchteten Vögel wussten noch instinktiv, wie man Nester baut, und die waren so stabil, dass sie sich darin paaren und ihren Nachwuchs großziehen konnten. Die Störche waren offensichtlich eine gute Entscheidung, denn sie halfen die Öffentlichkeit zunehmend neugierig auf die Vorgänge in Knepp zu machen, sodass sich immer mehr Besucher einfanden. Die Burrells hatten richtig gelegen, es hat sich, wie bei Frans Vera, ein Flickenteppich verschiedener Biotope entwickelt.

Leider haben die Burrells die Veränderungen in den letzten 20 Jahren nicht mit der Filmkamera festgehalten, sodass kein klassischer Dokumentarfilm über den Verlauf gedreht werden konnte. David Allen engagierte die Kameramänner Tim Cragg und Simon De Glanville, die Erfahrungen mit Natur- und Tieraufnahmen haben, und für zusätzliche visuelle Effekte sorgten Darlene Buttner und Marco Antonio bispo da Silva. So ist ein respektabler Naturfilm entstanden. Die Kamera beobachtet eine Schweinemutter dabei, wie sie ein Nest aus Laub für ihre Ferkel baut und diese auch mit Laub zudeckt, um sie warm zu halten, denn die Tiere mussten ohne die schützende Hand von Viehwirten und ohne Stall auskommen. Es ist auch faszinierend zu sehen, dass Schweine nicht nur schwimmen, sondern auch nach Muscheln tauchen können. - Grandios sind die Aufnahmen von Regenwürmern, die sind wirklich großes Kino. Auf Gut Knepp sind sensationelle 19 Arten davon vertreten. Regenwürmer lockern nicht nur den Boden auf, ihre Ausscheidungsprodukte sind natürlicher Dünger. (Wenn in absehbarer Zeit die Vorräte an Kunstdünger auf der Erde aufgebraucht sind, wird ihnen noch eine existentielle Bedeutung zukommen.)

Es gab viel Kritik wegen des Projekts und auch Rückschläge, als z.B. Kreuzkraut und massenweise Ackerkratzdistel wuchsen, die für Rinder und Pferde giftig sind. Die Natur steckt jedoch voller Überraschungen und Wunder, denn aus Nordafrika kamen riesige Schwärme von Schmetterlingen angeflogen, die auf Ackerkratzdisteln spezialisiert sind. Deren Raupen ließen von den Disteln keinen Halm mehr übrig. Beim Kreuzkraut musste dann doch von Menschenhand etwas nachgeholfen werden. Insgesamt kann das Postulat des Nichteingreifens in die Natur nicht absolut gesetzt werden. Der Film endet nach nur 75 Minuten, und irgendwie fehlen ein paar Puzzleteile, obwohl noch Zeit gewesen wäre. Die Bilanz ist positiv. Die Burrells sind keine Einzelkämpfer mehr, sondern Teil einer Bewegung, die etwas verstanden hat, heißt es im Film: „Wir wissen jetzt, wie es geht, wie wir Natur in unser Leben zurückholen können“, resümieren sie.

*

Eine der offenen Fragen ist die nach den natürlichen Feinden der Tiere, denn es gibt keine Raubtiere, die den Bestand regulieren. Die Rinder tragen die gesetzlich vorgegebenen Ohrmarken, und ein Blick auf die Webseite von Knepp gibt klare Auskunft. Dort ist ein Shop, in dem neben etlichen anderen Produkten auch Fleisch verkauft wird. Vieles ist schon ausverkauft, weil die Mengen begrenzt sind. Das allein reicht aber nicht aus, finanziell über die Runden zu kommen. Die Burrells bieten naturnahe Unterkunft an, u.a. Camping, und themenbezogene „Safaris“, bei denen man z.B. die Biber oder die Störche beobachten kann. Vermutlich wurde das wegen der teils massiven Kritik nicht erwähnt, aber es ist doch wichtig, dass der Betrieb sich trägt. Die Burrells produzieren also in geringen Mengen Lebensmittel, sie müssten Arbeitgeber sein, denn das vielfältige Angebot können sie nicht allein bewältigen. Vor allem leisten sie einen Beitrag zum Klimaschutz und haben bedeutsame Forschungsergebnisse erzielt. Gleichzeitig lernen ihre Besucher die Artenvielfalt der Natur kennen und können fortan den Unterschied zur so genannten Kulturlandschaft erkennen. Die Briten sind auf diese sehr stolz, und für die berühmten Parkanlagen und Gärten sind diese Fähigkeiten auch angebracht. Auf längere Sicht müssen aber die erodierten Ackerböden wieder renaturiert werden, vor allem angesichts der wiederkehrenden verheerenden Fluten.

Das „wilde Land“ ist ein Beispiel dafür, wie Renaturierung gelingen kann, auch wenn es nicht für alle Böden und Landschaften geeignet sein mag. Die Zerstörung der Natur durch eine Landwirtschaft mit Pestiziden und anderen Ackergiften, mit Monokulturen und Massentierhaltung muss überdacht werden. Auf Gut Knepp entsteht zwar genug Nahrung für Insekten, Vögel und Säugetiere, aber kaum welche für Menschen. Es müssen also Konzepte entwickelt werden, wie nach einer Wiederherstellung der Böden Lebensmittel für Menschen produziert werden können. Frans Vera und die Burrells haben wichtige Erkenntnisse zu den Voraussetzungen dafür beigetragen. Eine ökologische Agrarwende und Maßnahmen zur Ernährungssouveränität sind langfristig unverzichtbar. Vielfältige Projekte tragen bereits dazu bei: wie Permakulturen, Hydroponik, solidarische Landwirtschaften, Selbstversorgungsgärten, Saatgutbanken, Essbare Städte, Ernährungsräte, FMNR, Farmer Managed Natural Regeneration von unterirdisch bereits vorhandenen Baumsaaten, Speisewälder und viele mehr.



Isabella Tree in friedlicher Koexistenz mit einem der ausgewilderten Schweine | (C) Polyband Medien GmbH

Helga Fitzner - 10. Oktober 2024
ID 14959
Weitere Infos siehe auch: https://landingpage.polyband.de/wildes-land.php


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