Der Dokumentarfilm Am Ende der Milchstraße entführt in die mecklenburgische Provinz
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Wischershausen ist auch mit einem Navigationsgerät nicht leicht zu finden. Angezeigt werden zunächst nur die Nachbardörfer, die direkt an der kleinen Landstraße liegen, von der unvermittelt eine kleine Seitenstraße abzweigt. Sie heißt „Wischershausen“, wie das Dorf mit den zwanzig Gebäuden, das an ihrem Ende liegt. Hier, inmitten einer von kleinen Seen und Feuchtmoorwiesen durchzogenen Landschaft unweit des Müritzer Nationalparks in Mecklenburg, leben 50 Dörfler unbeirrt weiter auf ihrer abgeschiedenen Scholle, die große Perspektiven nicht erlaubt. Wischershausen ist mit seinen beige oder grau verputzten Häusern, seiner heruntergekommenen, ehemaligen Schweinemastanlage und dem überdimensioniert wirkenden Milchhof nicht gerade „ein schmuckes Dorf“, wie eine in den neunziger Jahre hinzugezogene Städterin anmerkt. Vor allem aber gibt es weder einen Kiosk oder Dorfladen, noch einen Gasthof oder eine Kneipe.
Schwer vorstellbar, ausgerechnet Wischershausen und nicht etwa die jeweils etwa zehn Kilometer entfernten Städte Altentreptow und Neubrandenburg, als Schauplatz für einen Dokumentarfilm auszuwählen. Die beiden Regisseure Leopold Grün, geboren 1968 in Dresden, und Dirk Uhlig, geboren 1967 in der Nähe von Zwickau in Sachsen, haben es gewagt: Am Ende der Milchstraße ist eine treffende Zustandsbeschreibung des (Über-)Lebens in dünn besiedelten Gebieten Ostdeutschlands – und ebenso bedächtig und melancholisch gestaltet wie das Leben dort. Der Zuschauer muss sich darauf einlassen, zumal über die Figuren nicht fernsehmäßig alles per Off-Kommentar erklärt wird, sondern ausschließlich über Interviewausschnitte. Das Leben der meisten Bewohner schwankt zwischen trotziger Selbstbehauptung und Resignation und verlangt allen Geduld, Standfestigkeit und Bescheidenheit, aber auch Solidarität ab, wenn sie über die Runden kommen wollen. Denn Lohnarbeit funktioniert in Wischershausen kaum noch, stattdessen gibt es aufgrund von Arbeitslosigkeit und mangelnder Infrastruktur nur mehr eine Art vormodernen Tauschhandel, der das Überleben der Dörfler sichert.
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(C) Neue Visionen Filmverleih
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Der handwerklich geschickte Harry, seit der Wende dauerarbeits- und entsprechend illusionslos, geht den anderen Dörflern bei allen technischen Belangen zur Hand. Dafür erhält Harry Fleisch, wenn einer der wenigen verbliebenen Landwirte wie Maxe ein Schwein, Huhn oder Kaninchen schlachtet. Dank dieser Tiere konnte sich Maxe während seiner Arbeitslosigkeit über Wasser halten. Für ihn und andere Männer im Dorf waren die Jahrzehnte bei der LPG durchaus goldene, weil sozial stabile Jahre. Er klagt über die Nachwendezeit, die scheinbar nichts Gutes gebracht hat, wie fast alle Männer im Film. Die Frauen, die für den Dokumentarfilm in Wischershausen befragt wurden, wirken hingegen sehr viel gelassener, pragmatischer und nicht von den Enttäuschungen über verpasste Chancen verbittert. Dabei hätten manche von ihnen allen Grund dazu, auch Gabriele Lange, die wie so viele Ostdeutsche nach 1990 Weiterbildungs- und Umschulungskurse besuchte und ABM-Stellen annahm, ohne dass sich daraus etwas Langfristiges entwickelt hätte.
„Zurzeit sind also noch alle Generationen im Dorf vertreten“, sagt Leopold Grün, „und auch, wenn sich viele von der Politik im Stich gelassen fühlen und der Reparaturbedarf an den Gebäuden erheblich ist, so wollen die meisten doch bleiben.“
Grün und Uhlig illustrieren am Beispiel des Dorfes die sozialen Folgen von wirtschaftlicher Stagnation und Abwanderung, aber auch des Überlebenswillens seiner Bevölkerung. Die Bevorzugung von Bildern gegenüber dem gesprochen Wort schränkt den Informationsgehalt allerdings so stark ein, dass allzu vieles im Ungefähren bleibt und manch interessierten Zuschauer halb satt zurücklassen wird.
Bewertung:
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Max-Peter Heyne - 23. Oktober 2013 (2) ID 7295
Post an Max-Peter Heyne
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