Roma-Filmfestival / Vol. V - 2. bis 6. Dezember 2021
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Die Rom*nja-Selbstorganisation RomaTrial e.V., Veranstalter von AKE DIKHEA?, hat einiges zu feiern. Das fünfjährige Bestehen ihres Filmfestivals fiel zusammen mit dem 50. Jubiläum der Rom*nja-Emanzipationsbewegung. Und AKE DIKHEA? (Romanes für „Na siehst du?“) konnte auch im zweiten Pandemie-Jahr wieder stattfinden, diesmal als hybrides Festival in Berlin und online.
Auch dieses Jahr waren wir wieder dabei, als es bei AKE DIKHEA? Anfang Dezember 2021 hieß: „Selbstrepräsentation ist mein Widerstand“. Das diesjährige Motto klingt nicht zufällig nach dem selbstermächtigenden Slogan „nicht über uns ohne uns“. Denn es geht um nicht weniger als das: Mehr Selbstrepräsentation, um der oft klischeebehafteten Fremdrepräsentation etwas entgegenzusetzen.
Die Diversität der Lebenswege und Geschichten von Rom*nja und Sinti*zze spiegelt sich besonders in den folgenden (Kurz-) Filmen wider, die wir hier kurz vorstellen wollen.
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Erode ist ein kaum fünf Minuten langer Experimentalfilm, der einen Interview-Ausschnitt in Dauerschleife zeigt: eine kurze antiziganistische Äußerung der konservativen britischen Innenministerin Priti Patel. Ihre Intonation lässt diesen Loop vor allem im Zusammenhang mit den flackernden, bunten Bildern wie ein Musikvideo wirken. Dieser Eindruck hält sich aber nicht lange, denn das Ganze wird mit Szenen brutaler Polizeigewalt gegen GRT („Gypsies, Roma and Travellers“) überblendet. Es sind unscharfe, wacklige Bilder. Doch damit wirkt das Gebell der auf die Traveller gehetzten Hunde und die Schreie der Menschen umso beklemmender.
Newland zeigt in unmissverständlicher Bildsprache, wie brandgefährlich die antiziganistische Rhetorik von Patel und ähnlich denkenden Politiker*innen ist, die Rom*nja und Sinti*zze als Kriminelle und Störfaktoren darstellen. Mit ihrer zynischen, rassistischen Täter-Opfer-Umkehr ebnet Patel den Weg dafür, dass grundlegende Menschenrechte von GRT im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten werden. Erode ist nicht angenehm anzuschauen. Aber hat Kunst nicht die Aufgabe „to disturb the comfortable“?
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Alice McDowells dokumentarischer Kurzfilm Spread the Wings zeigt in ruhigen Filmaufnahmen in der Natur und in Interviewsequenzen, wie Maggie Delaney ihren alljährlichen Sommeraufenthalt in Connemara mit ihren Verwandten erlebt. Die Regisseurin lässt ihre Protagonistin, die zur Irish Traveller Community gehört, dabei vor allem selbst zu Wort kommen.
Delaney hat helle blaue Augen und langes, dunkelblondes, lockiges Haar; sie trägt ein Stirnband, ihr Gesichtsausdruck ist meist ernst. Wenn sie aber mit ihrem Großneffen oder seinen Eltern zusammen ist, weicht der ernste Ausdruck einem offenen, herzlichen Lachen. Es spiegelt ihre eigene unbeschwerte Kindheit wieder - sie habe es genossen, erzählt sie der Kamera, als Kind mit ihrer Familie in Zelten zu leben und umherzuziehen. Es sei allerdings schlimm gewesen, als die Behörden die Travellers zwangen, sich in Häusern niederzulassen. Sie fühlten sich dort wie Gefangene, erzählt Maggie. Als ihr Neffe mit nur 27 Jahren starb, war für sie der Moment gekommen, die ihnen zugewiesenen Häuser zu verlassen. Seit 11 Jahren leben sie nun wieder „on the road“, immer im Wissen, dass ihre Campingsites geschlossen werden können, und dennoch ist dies für sie die einzig richtige Lebensweise – mit Bewegungsfreiheit, nah am Herzen der Natur, umgeben von frischer Luft, Wasser, Vögeln, Stille.
Sehr sparsam untermalt von unaufdringlicher Musik, erzählt Spread the Wings in heiter-melancholischem Ton von einer eigentlich ganz normalen Familienzusammenkunft, einem Leben zwischen Wohnwagen, Natur und Kirchenbank. Zugleich erzählt er aber auch von der tiefen Sehnsucht des Menschen nach einem freigewählten Lebensstil ohne Vorschriften.
Gegen Ende zeigt eine wacklige Kamera Maggie’s Großneffen Connie, wie er in Slow Motion über das Feld läuft. Welten entfernt von der üblichen Idylle, die mit dieser Technik in Blockbustern evoziert wird, ist dieser Lauf in Slow Motion sehr nah an der Realität, am Menschen. Connie tobt über die Felder und mit seinen Hunden, als wolle er die Worte seiner Großtante in die Wirklichkeit umsetzen, in Bewegung: „We’re just like the birds and the ocean, want to get away. Spread the wings.“
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Spread the Wings von Alice McDowells | Bildquelle: roma-filmfestival.com
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How I Became A Partisan – Cinematic Resistance Against Oblivion von Vera Lacková.
Schon der Untertitel verrät einen Hang zu wilder Entschlossenheit: Vera Lacková hat sich mit ihrem „cineastischen Akt der Rebellion gegen das In-Vergessenheit-Geraten“ einiges vorgenommen.
Ihr anderthalb Stunden langer Dokumentarfilm mit ihr selbst als Erzählerin und Protagonistin beginnt mit einer märchenhaft anmutenden Nacherzählung der Geschichte ihrer Vorfahren. Was ihren Urgroßeltern während des Zweiten Weltkrieges unter dem „dunklen König“ widerfahren ist, ist freilich alles andere als märchenhaft.
Vera Lackovás Urgroßvater Jan Lackó war als Partisan während des Kriegs im Konzentrationslager Dubnica nad Vahóm interniert. Seine Familie wurde von der Wehrmacht in einem Wald ermordet. Lacková kennt Fragmente seines Lebens aus Erzählungen ihrer Großmutter, doch das reicht ihr nicht. Die junge Regisseurin begibt sich auf Spurensuche, um mehr über Jan Lackó und andere Rom*nja-Partisan*innen der ehemaligen Tschechoslowakei in Erfahrung zu bringen. Dabei reist sie durch das Land, spricht mit Historiker*innen, Archivar*innen und Privatpersonen. Und sie steht in engem Kontakt mit ihrer Mutter und Großmutter, die sie in ihrem Vorhaben bestärken und ihr eine emotionale Stütze sind.
Es ist Unterstützung, die Lacková gut gebrauchen kann: Sie ist Mitorganisatorin einer Gedenkveranstaltung an einem Massengrab, bei der sie über Rom*nja-Partisan*innen spricht. Zudem plant sie eine Ausstellung über Rom*nja im Widerstand gegen die Nazis und ihre Verbündeten. Schnell wird klar, dass sie sich keinen leichten Aufgaben gestellt hat. Zu oft wird – in vertrautem Kreis, aber auch Fremden – die Frage gestellt: „Glaubt ihr, dass die Geschichte sich wiederholen kann?“
Eine durchaus angebrachte Frage – denn die Slowakei ist eins der vielen EU-Länder, in denen rechte, nationalistische Bewegungen in den letzten Jahren immer mehr Zulauf bekamen. In Lackovás Film werden die Bezeichnung „Roma“ und das Z-Wort häufig abwechselnd verwendet, auch von Rom*nja selbst. Wir erleben als Zuschauer*innen hautnah mit, wie Diskriminierung von Rom*nja in dem kleinen Land noch an der Tagesordnung ist, aber auch der internalisierte Antiziganismus. Die in Wien lebende Filmemacherin hat sich indes dafür entschieden (Triggerwarnung!), auch höchst problematische Aussagen nicht herauszuschneiden.
In den Schlussszenen wird klar, wem das entsetzliche Märchen erzählt wurde – und wir erfahren, ob Lackovás Vorstoßversuche bei den diversen Autoritäten geglückt sind. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. How I Became A Partisan ist ein sehenswerter Dokumentarfilm, auch wenn er für Menschen, die mit der Thematik nicht vertraut sind, über weite Strecken doch recht langatmig ist. Er lohnt sich wegen des spannenden Einblicks in die Mentalität der heutigen slowakischen Gesellschaft. Und nicht zuletzt wegen Jan Lackós Urenkelin, die gegen so viele Widerstände ankämpft, um ihm und seinen mutigen Weggefährt*innen endlich einen kleinen Platz in der Erinnerungskultur ihres Landes zu schaffen.
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Jo Ojan - 2. Januar 2022 ID 13380
Weitere Infos siehe auch: https://roma-filmfestival.com/de/
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