Filmfestival
Cannes 2015 (2)
Überraschungen und Flops
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Am vergangenen Sonntag ist das 68. Filmfestival in Cannes zu Ende gegangen. Zwölf Tage lang haben 108 Filme das Publikum auf Trab gehalten...
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Der überzeugendste Film war zugleich der unerträglichste: Bei der Vorführung von Son of Saul verließen einige Zuschauer vorzeitig den Kinosaal - nicht etwa aus Langeweile, sondern weil sie die Bilder und v.a. die Tonspur des Films nicht länger ertragen konnten. Der ungarische Regisseur László Nemes hat sich auf riskantes Terrain begeben. An künstlerischen Repräsentationen des Holocaust sind schon viele gescheitert, und noch mehr haben es gar nicht erst versucht. Zu groß ist die Angst vor den moralischen Klippen, zu deutlich hallt noch Adornos Diktum nach.
Nemes' Lösung ist die Beschränkung auf Sauls Perspektive, dargestellt in einem fast quadratischen 4:3-Format. Das Kameraauge sieht nur so viel wie Saul, und auch das oft unscharf. Der ungarische Jude Saul macht sich als Teil eines Sonderkommandos unwillentlich zum Handlanger der Nazis. Das, was seine Augen ausblenden, dringt dafür ungefiltert in sein Gehör (und das des Zuschauers) vor. Gute Frage, welches Geräusch unerträglicher ist: die immer kläglicher werdenden Schreie der am Gas erstickenden Juden oder das Gekratze der Nagelbürsten, mit denen das Sonderkommando im Anschluss die Wände der Gaskammern zu säubern hat. Tamás Zányi hat den Soundtrack der Hölle aufgezeichnet. Dafür wurde ihm in Cannes der sogenannte Vulcain-Preis überreicht.
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Ähnlich genial, wenn auch inhaltlich nicht vergleichbar, war der auf Englisch gedrehte Film The Lobster von dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos. Lanthimos stellt darin eine kühne These auf. Er entwirft eine „in der nahen Zukunft“ angesiedelte Welt, in der nur in einer Paarbeziehung lebende Individuen ein Recht auf Leben haben. Da es jedoch sehr viele Singles gibt, hilft der Staat nach: In einer Institution namens „The Hotel“ haben Alleinstehende 45 Tage Zeit, einen Partner zu finden. Anderenfalls werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und stehen zum Abschuss bereit. Lanthimos zeichnet ein äußert düsteres, zeitlich jedoch gar nicht so weit entfernt scheinendes Szenario. Komik und Tragik liegen eng beieinander. Lanthimos deutet an, dass ein Ausweg ausgerechnet in der Liebe liegen könnte. Fest steht: sein Gedankenexperiment macht Spaß und ist mit Abstand das Originellste, was das diesjährige Filmfestival zu bieten hat!
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Nur ein weiterer Film schaffte es, eine ähnlich große Euphorie unter den Festivalbesuchern hervorzurufen. Todd Haynes erzählt in Carol eine traurige, weil nahezu unmögliche Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen im New York der Fünfziger Jahre. Interieur und Kostüme erinnern stark an Mad Men, nur dass hier das weibliche Universum im Vordergrund steht. Es macht großen Spaß, Carol (gespielt von Cate Blanchett) und Therese (gespielt von Rooney Mara) dabei zuzusehen, wie sie sich ineinander verlieben. Carol selbstbewusst und ungezügelt, Therese schamhaft und in kleinen Dosen. Indirekt ist Carol ein politischer Film. Er zeigt eine zutiefst konservative Gesellschaft, die Homosexualität mit geistiger Unzurechnungsfähigkeit gleichsetzt. Carols Ehemann droht, das Gericht von der Unfähigkeit Carols ein Kind aufzuziehen, zu überzeugen, indem er ihre Beziehung zu Therese publik macht. Rooney Mara ist in Cannes - zusammen mit Emmanuelle Bercot - als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet worden. Cate Blanchett ist sogar schon für den Oscar im Gespräch. Einen Oscar hätte auch Carter Burwell für seine Filmmusik verdient.
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Enttäuschend war dagegen Irrational Man, der neue Woody Allen-Film. Joaquin Phoenix spielt darin einen depressiven, alkoholabhängigen Philosophieprofessor, der gleich bei zwei Frauen - gespielt von Emma Stone und Parker Posey - Ablenkung vom Trübsinn sucht. Als wäre der Schlamassel nicht schon groß genug, begeht der Prof zu allem Überfluss auch noch einen Mord. Der Film weiß nicht ganz, was er (sein) will. Ähnlich orientierungslos kommen die Jazz-Klänge daher, die die Handlung des gesamten Film untermalen. Mehr gelacht hat man bei Woody Allen allemal schon. Bei der Pressekonferenz sagt er sinngemäß, das Filmemachen lenke ihn vom Wissen um seine eigene Vergänglichkeit ab. Das freut uns für ihn. Für einen guten Film reicht das allerdings noch nicht.
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Eine weitere Enttäuschung ist Natalie Portmans Regiedebüt A Tale of Love and Darkness. Portman verfilmt den gleichnamigen autobiographischen Roman von Amos Oz, der von dessen Kindheitsjahren im Israel der Gründungsjahre handelt. Portman spielt Oz’ Mutter. Auf der Pressekonferenz rechtfertigt sie diese Entscheidung mit Pragmatismus: Ohne sie als Hauptdarstellerin sei keine Finanzierung zustande gekommen. Der Film ist rührselig und recht eindimensional. Der etwas simple Inhalt pflanzt sich in einer unoriginellen Erzählweise fort. Aber vielleicht ist von einem Erstlingswerk nicht mehr zu erwarten, ob die Regisseurin nun Portland heißt oder nicht.
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Der Gewinner der Goldenen Palme, Dheepan, ist den meisten Festivalbesuchern bis zur Preisverleihung nicht weiter aufgefallen. Die Geschichte von drei tamilischen Flüchtlingen, die sich in Frankreich eine neue Existenz aufzubauen versuchen, ist politisch hochaktuell und emotional anrührend. Ihre filmische Umsetzung ist jedoch keiner Goldenen Palme würdig. Fast alle sind sich einig, dass die Auszeichnung eigentlich an Son auf Saul hätte gehen sollen. Immerhin hat er mit dem Grand Prix sozusagen Silber gewonnen.
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Son of Saul von László Nemes | © Ad Vitam
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Lea Wagner - 28. Mai 2015 ID 8671
Weitere Infos siehe auch: http://www.festival-cannes.com
Post an Lea Wagner
Cannes 2015 | Festivalbericht (1)
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