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72. Internationale Filmfestspiele von Venedig

Langeweile

in der

Lagune




Venedig, das älteste Filmfestival der Welt, gehörte einst zu den wichtigsten Treffen der Branche. Dass das vorbei ist, konnte man bei der 72., gerade zu Ende gegangenen Veranstaltung der Filmfestspiele deutlich spüren. Ein Teil des Publikums wie der Filmschaffenden reiste schon nach wenigen Tagen ab - schließlich winkte Toronto, dessen Filmfest ungefähr zeitgleich stattfindet und gerade für amerikanische Produktionen der wichtigere Absatzmarkt ist. Die, die blieben, gingen baden am Lido (vom Kinosaal stolpert man beinahe ins Meer), fuhren auf die andere Seite der Lagune zur Kunstbiennale - oder motzten: So schlecht sei bisher noch kein Jahrgang gewesen; „einfallslos, feige, konsumorientiert“, lautete das Urteil. Das Publikum auf Filmfestivals ist anspruchsvoll und direkt. Mundet ein Film nicht, wird er lauthals ausgebuht - auch in Anwesenheit des Regisseurs.

Enttäuschend war bereits der Eröffnungsfilm, Everest, der bei uns am 17. September ins Kino kommt. Regisseur Baltasar Kormákur erzählt darin die gescheiterte Expedition von 1996, bei der 12 Menschen ums Leben kamen. Trotz der hochkarätigen Besetzung (Jake Gyllenhaal, Keira Knightley, Robin Wright, Emma Watson) und der 3-D-Optik ist der Film ein Flop. Effekthascherisch, vorhersehbar in seiner Erzählstruktur und manipulativ, was den Einsatz der Musik anbelangt. Die Eröffnungsfilme der beiden vorigen Jahre, Gravity 2013 und Birdman 2014, spielten in einer anderen Liga.



Beasts of No Nation | (C) Netflix


Der Hauptwettbewerb hielt wenige Überraschungen bereit. Eine interessante Erscheinung, wenn auch dem Unterhaltungskino zugehörig, war Beast of No Nation von Cary Fukunaga. Im Mittelpunkt steht der etwa achtjährige Agu, der in einem nicht näher benannten westafrikanischen Land zum Kindersoldaten ausgebildet wird. Der Film überzeugt durch die Performance Abraham Attahs in der Rolle des Agu (dafür wurde er gerade als bester Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet), durch seine Fotografie (Fukunaga übernahm selbst die Kameraführung, nachdem sich sein Kameramann eine Sehne gerissen hatte) und durch seinen ohrenbetäubenden, von Dan Romer komponierten Soundtrack. Produziert wurde Beasts… von Netflix, das den Streifen bereits nach Ende der Dreharbeiten für 12 Millionen US-Dollar erworben haben soll. Netflix hat sich damit die Rechte gesichert, den Film seinen weltweit 65 Millionen Abonnenten am gleichen Tag seines US-Kinostarts (16. Oktober) als Video on Demand anzubieten. So etwas gab es noch nie; dieses Modell könnte durchaus die Zukunft sein. Netflix rühmt sich damit, Filme zu produzieren, die anderenfalls nie gemacht würden. Kürzlich gab auch Apple bekannt, ebenfalls ins Filmgeschäft einzusteigen. Am Lido wurde diese Entwicklung sehr gemischt aufgenommen. Die Empörung, die noch vor wenigen Monaten in Cannes bei der Rede von Netflix-Chef Ted Sarandos zu spüren gewesen war, hat jedoch bereits abgenommen. Widerstand ist zwecklos, scheinen viele zu denken.

Eine positive Überraschung war außerdem das Stop Motion Animations-Drama Anomalisa. Charlie Kaufman und Duke Johnson erzählen darin die Geschichte von Michael Stone, einem deprimierten Motivationscoach, den es auf einer Dienstreise nach Cincinnati verschlägt. Der Hauptteil des Films ist beschränkt auf Michaels Erlebnisse im Hotel Fregoli (wer am Fregoli-Syndrom leidet, glaubt, dass hinter allen Menschen dieselbe Person steckt). Dort trifft er Lisa. Lisa ist pummelig und schrecklich unsicher. Ein Feuermal verstellt einen Teil ihres Gesichts. Lisa schafft es, Michael aus seiner Depression zu reißen - für ihn ist sie anders als alle anderen, deshalb nennt er sie Anomalisa. Genial an diesem zugegebenermaßen mehr als gewöhnlichen Plot ist seine Umsetzung. Alle Charaktere, bis auf die beiden Protagonisten, werden von dem gleichen Schauspieler, Tom Noonan, gesprochen: So klingen - aus Michaels Perspektive - alle Menschen gleich: seine Ehefrau, sein Sohn, die Ex-Geliebte und der Hotel-Manager. Anomalisa gewann verdientermaßen den Großen Preis der Jury.



Heart of a Dog | Quelle: labiennale.org


Ähnlich genial war der Wettbewerbsfilm Heart of a Dog von Musikerin und Performance-Künstlerin Laurie Anderson. Vordergründig geht es um den Tod von Andersons zerknittertem Terrier Lollabelle. Wir sehen auf Video-Mitschnitten, wie Lollabelle auf die Tasten eines Klaviers einhaut oder Farbkleckse auf einem Papier verteilt. Als sie durch ein Feld stromert, ist die Kamera auf ihrer Augenhöhe, die Aufnahmen sind verwackelt, da mit Handkamera gefilmt. Wer sich weigert, sich den Film anzusehen, weil ihm das Hunde-Sujet zu blöd ist, verpasst etwas. Heart of a Dog ist ein Gesamtkunstwerk - es scheint, als wurde dieser überstrapazierte Begriff erst für Andersons Werk geschaffen. Eigentlich fehlt nur noch, dass Gerüche der Leinwand entsteigen, derart stark spricht Anderson die Sinne an. Ihr achtzigminütiges Werk ist eine Zusammenstellung alter Fotografien, psychedelisch anmutender Graphik-Sequenzen, majestätischer Landschaftsbilder und Momentaufnahmen aus dem New Yorker East Village. Der rote Faden ist ein von Anderson gesprochener Kommentar aus dem Off. Darin denkt sie über den Tod (ihr langjähriger Lebensgefährte Lou Reed starb 2013), die Bedeutung von Sprache für die Menschheit (sie zitiert immer wieder Wittgenstein und Kierkegaard) und die Auswirkungen von 9/11 nach: von der Ermordung von Bin Laden bis zum NSA-Headquarter dokumentiert sie die ganze Entwicklung. Am eindrucksvollsten ist die Szene, in der Hund Lollabelle auf einem Spaziergang durch die Hügel Nordkaliforniens plötzlich verängstigt gen Himmel blickt: Er hat gesehen, dass die in Scharen über ihm kreisenden Falken ihn als Beute wahrnehmen und jederzeit bereit sind, ihn in einem unaufmerksamen Moment zu erlegen. Anderson kommentiert sinngemäß: „Lollabelle stellte in dem Moment fest, dass die Dinge nie wieder sein würden wie bisher. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht kam mir bekannt vor. Ich fragte mich, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Plötzlich fiel es mir wieder ein: Es war der permanente Gesichtsausdruck meiner Nachbarin seit 9/11.“ Heart of a Dog ging bei der Preisverleihung komplett leer aus. Eine Schande, die Bände über den konventionellen Geschmack der Jury spricht.



In Jackson Heights | Quelle: labiennale.org


Mit wesentlich weniger Dramatik kommt der außerhalb des Wettbewerbs gezeigte Streifen In Jackson Heights aus. Der Dokumentarfilmer und Theaterregisseur Frederick Wiseman lässt drei Stunden die Kamera quer durch Queens streifen, Kommentare sowie ein fester Handlungsstrang oder klare Protagonisten fehlen. Der Zuschauer nimmt teil am Leben der Bewohner dieses bunten Stadtteils, in dem 167 Sprachen gesprochen werden. Viele Szenen sind in Echtzeit, ein Schnitt scheint zu fehlen, als hätte Wiseman die Kamera einen ganzen Tag einfach mitlaufen lassen, ohne sie zwischendrin abzuschalten. Der Zuschauer ist mittendrin, was bereits das „In“ im Titel nahelegt. Nicht jede Szene ist interessant, dafür aber umso authentischer.

Ähnlich funktioniert auch Neon Bull/Boi neon von Gabriel Mascaro. Der Film lief in der Nachwuchsregisseuren vorbehaltenen Kategorie „Orizzonti“, die sich einmal mehr als weitaus interessanter, da innovativer als der Hauptwettbewerb herausstellen sollte. Auch bei diesem Film gewinnt man den Eindruck, Kameramann Diego Garcia (zuletzt hatte er das Cannes-Publikum mit seiner Arbeit in Cemetery of Splendor entzückt) hätte seine Kamera einfach mitlaufen lassen. Im Zentrum steht eine Gruppe von Arbeitern rund um das “Vaquejada“-Rodeo im Nordosten Brasiliens. Gefilmt wird jeder (scheinbar) noch so triviale Moment: das morgenliche Urinieren des Arbeiters Iremar (der so etwas wie Haupthandlungsträger in einem Film ohne wahre Protagonisten ist) oder wie er den Schweif der Rinder vor dem Rodeo präpariert. Ebenfalls in Echtzeit wird der Zuschauer Zeuge einer mehr als expliziten Sexszene zwischen Iremar und der hochschwangeren Sicherheitsangestellten einer Textilfabrik. Nichts wird ausgespart, und jeder Moment scheint gleich wichtig. Die Kamera bleibt meist in der Totalen, sie hält die gleiche Distanz zu Protagonisten, Rindern und der atemberaubenden Landschaft. So etwas trifft nicht jedermanns Geschmack, auch nicht auf einem Festival des Autorenfilms. Mascaro ist sich dessen bewusst. Im Gespräch sagt er, Geschichten zu erzählen, habe ihn nie gereizt. Ursprünglich kommt er aus dem Dokumentarfilmbereich. Bekanntheit erlangte er in Brasilien mit einer Doku über Hausangestellte und einem Kurzfilm über das Verhalten von Polizisten bei einer Demonstration. Für Neon Bull erhielt Mascaro in Venedig den Spezialpreis der „Orizzonti“-Jury.

Werke wie Neon Bull, Heart of a Dog oder der begeistert aufgenommene Episodenfilm 11 Minutes von Jerzy Skolimowski mögen für den Zuschauer mitunter harte Arbeit bedeuten, allerdings sind sie um ein Vielfaches interessanter als klassisches, passiv konsumierbares Erzählkino. Was die Jury (außer der Nationalität des Jury-Vorsitzenden Alfonso Cuarón) dazu bewog, Lorenzo Vigas’ Desde allá mit dem Goldenen Löwen auszuzeichnen, versteht am Lido niemand so recht. Die Aussage des Films ist plakativ, seine Handlung alles andere als originell, und der inflationäre Gebrauch verwackelter Bilder mehr als anstrengend. Kein Vergleich mit dem cleveren, subtilen Gewinner des Vorjahrs, Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach.


Lea Wagner - 15. September 2015
ID 8868
Weitere Infos siehe auch: http://www.labiennale.org


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