Filmstart: 23. Juni 2011
„Die Frau die singt“ („Incendies“ - Kanada 2009)
Regie: Denis Villeneuve / Nach dem Theaterstück „Incendies“ von Wajdi Mouawad
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Selten trifft ein Film den Zuschauer mit einer solchen emotionalen Wucht, wie Die Frau, die singt. Er beginnt mit arabisch aussehenden Jungen, denen von uniformierten Männern die Haare geschoren werden. Einer von diesen Jungen schaut ernst, fast grimmig in die Kamera. Erst zwei Stunden später wird sich die Klammer zu diesen ersten Einstellungen des Films wieder schließen und wir haben Kenntnisse erlangt, die wir möglicherweise froh wären, wieder löschen zu können. Aber das geht nicht. Genau so wenig können sich die Protagonisten der Geschichte dem Kreislauf von Hass, Zorn und Gewalt entziehen, es sei denn...
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Nawals (Lubna Azabal) Heimat - Foto © Arsenal Filmverleih
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Nawal (Lubna Azabal) rettet ein Kind vor der Erschießung - Foto © Arsenal Filmverleih
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Nawal Marwan (Lubna Azabal) trifft auf einen Grenzposten - Foto © Arsenal Filmverleih
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Szenenwechsel: In einer kanadischen Großstadt hat der Notar Lebel (Rémy Girard) die erwachsenen Kinder seiner ehemaligen Sekretärin zu sich gerufen, um deren Testament zu verlesen. Die verstorbene Nawal Marwan (Lubna Azabal) hat die letzten Jahre ihres Lebens in einem Schockzustand verbracht und nicht mehr gesprochen. Ihre Kinder wissen nicht, wodurch das ausgelöst wurde. Nun sitzen die Zwillinge Jeanne (Mélissa Désormeaux-Poulin) und Simon (Maxim Gaudette) beim Notar und erfahren Erstaunliches. Nach dem letzten Willen ihrer Mutter sollen sie ihren Vater und ihren Bruder suchen und diesen Briefe übergeben. Die Geschwister hatten geglaubt, dass ihr Vater gestorben sei und nie von einem Bruder gehört. Simon ist das zu viel. Er lässt sich auf diese seltsame Geschichte nicht ein. Aber seine Schwester Jeanne begibt sich auf Spurensuche. Sie reist in ein nicht näher definiertes Land im Mittleren Osten, aus dem ihre Mutter stammt und sucht dort nach Familie.
Sie ist dort nicht sehr willkommen, denn ihre streng christlich erzogene Mutter hat einen muslimischen Palästinenser geliebt und einen unehelichen Sohn zur Welt gebracht. In Rückblenden erzählt der Film, wie sie dadurch Schande über die Familie gebracht hat und das Kind nach der Geburt sofort weggeben musste. Als sie sich anders besann und den Jungen zu sich holen wollte, war das Waisenhaus abgebrannt. In den Unruhen und dem Bürgerkrieg zwischen Christen und Muslimen konnte die Mutter ihr Kind nicht mehr ausfindig machen.
Ihre Tochter hat Jahrzehnte später mehr Glück. Ihre Mutter war Studentin und arbeitete im Widerstand. Sie wurde verhaftet und verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis. Dort ist sie als die Frau, die singt, in Erinnerung geblieben, denn sie hatte mit ihrem Gesang der Folter und den Qualen getrotzt. Tochter Jeanne ist auf der Spur des Folterers ihrer Mutter. Ihr Bruder Simon hat sich inzwischen anders besonnen und begleitet seine Schwester. Auch Notar Lebel beteiligt sich an der Suche und lässt seine Beziehungen spielen. Am Ende gelingt es den Geschwistern, das Rätsel um ihren Bruder und Vater zu lösen. Die Wahrheit ist schockierend und unerträglich.
In den Briefen an den Vater ihrer Kinder und an ihren Sohn fordert die verstorbene Nawal, dass die Ketten des Zorns gesprengt werden. Sie verlangt damit, das Inakzeptable zu akzeptieren und das Unverzeihliche zu verzeihen. Das ist nach den jahrzehntelangen Ausschreitungen im Mittleren Osten auch der einzige Weg, aber ist er gangbar? Der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad und der kanadische Regisseur Denis Villeneuve sehen offensichtlich keine andere Chance als im Unmöglichen. Man muss wohl erst Frieden in sich und mit sich selbst schließen, bevor er im Äußeren Wahrheit werden kann.
„Incendies ist auf keinen Fall ein Stück über die Notwendigkeit, seine Wurzeln zu kennen“, erklärt Mouawad, „so wie es falsch ist zu glauben, es sei Stück über den Krieg. Es vielmehr ein Stück über den Versuch, in einer unmenschlichen Situation seine Versprechen als Mensch zu halten.“
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Helga Fitzner - red. 26. Juni 2011 ID 00000005266
Weitere Infos siehe auch: http://arsenalfilm.de/die-frau-die-singt/
E-Mail an die Rezensentin Helga Fitzner (fitzner@kultura-extra.de)
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