Valentin
Thurn
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Valentin Thurn | Foto (C) David Vogt
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Sie stellen in Ihrer Dokumentation fünf ProtagonistInnen vor, die ihre Träume realisieren. Hat Sie irgendetwas überrascht bei den Dreharbeiten?
Valentin Thurn: Mich haben alle Fünfe überrascht, wie beharrlich sie dabei bleiben, obwohl ich sie auch danach ausgesucht hatte. So eine Konsequenz ist dann schon beeindruckend. Dafür rücken alle zusammen, man verzichtet auf Einkommen und anderes, um dann am Ende mehr Selbstzufriedenheit zu erfahren.
Was haben Ihre „Fünfe“ gemeinsam?
V. T.: Die kommen alle aus dem Hamsterrad, und einige waren kurz davor, sich tot zu arbeiten. Jeder Mensch hat sein eigenes Päckchen zu tragen, aber auch ein eigenes Rädchen, an dem er drehen kann. Der Punkt ist der, dass diese Fünfe an einem bestimmten Moment in ihrem Leben das Gefühl bekommen haben, etwas an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit verändern zu können. Mir ist aufgefallen, besonders im Beruf, dass viele Menschen ihre eigenen Stärken und Schwächen gar nicht mehr kennen. Im Job müsste man doch eigentlich wissen, was man kann und was man nicht kann. Es ist auffallend, dass viele sich dessen nicht bewusst sind.
Man macht aber einfach so weiter egal, ob das einen Bezug zum Selbst hat und mit dem eigentlichen Leben verwurzelt ist. Oder - man macht sich auf den Weg, wohin das Herz einen führt.
V. T.: Stimmt. Das ist oft eine intuitive und keine rationale Entscheidung.
Würden Sie den Begriff „Selbstwirksamkeit“ bitte definieren?
V. T.: Ich mache etwas. Ich ändere damit auch etwas in meiner Wirklichkeit. Ich schaffe das, weil ich das so für mich entschieden habe.
Und Sie können für alle fünf ProtagonistInnen eine gute Prognose abgeben.
V. T.: Die haben sich in den drei Jahren der Dreharbeiten gut zusammengerauft und haben viel mehr zu sich selbst gefunden. Deren psychisches Befinden, das kann ich mit Bestimmtheit sagen, hat sich verbessert. Die haben trotz einiger Rückschläge an Zufriedenheit gewonnen.
Gibt es dabei ein Patentrezept?
V. T.: Jede/r muss seinen/ihren Weg finden. Das lässt sich nicht kopieren. Es kann nicht jede/r den gleichen Traum haben. Es geht mir darum, Mut zu machen, diesen Schritt zu wagen: Du kannst das auch.
Selbst wenn ich auf den Mars will?
V. T.: Ich persönlich gehöre zu den Menschen, die erst einmal versuchen, den eigenen Planeten zu retten, bevor man nach anderen Ausschau hält. Aber Günther Golob hat so Fragen gestellt, die mich überrascht haben. Wenn wir auf dem Mars eine neue Kolonie gründen, brauchen wir da eine Hierarchie? Braucht man da Geld? Auf der Erde stellen wir uns diese Fragen nicht mehr. Aber sie sind wichtig, sie sind fundamental. Wir nehmen das komplett als gegeben hin, dabei ist es nicht gegeben. Das ist menschengemacht. - Der „Marsianer“ hat tatsächlich sein Unternehmen aufgelöst, aber er ist zufriedener. Und was ist denn wichtiger? Weil das alles so lange dauert, hat er auf Sanitäter umgesattelt. Da muss er nicht so lange arbeiten, wie als Unternehmer und könnte das Wissen auf dem Mars sehr gut gebrauchen. Es ist nicht sicher, ob das überhaupt stattfinden wird, aber er bleibt beharrlich bei der Sache.
Manchmal möchte man schon alles hinter sich zurücklassen. Nun hat gerade angesichts des Leids der Kinder das Beispiel von Line und Katja Fuks mit dem Schulausstieg in den letzten 17 Monaten einen Bedeutungswandel erfahren. Sie sind selbst Vater.
V. T.: Was die Familien gelitten haben, weil Unterricht ausgefallen ist, weil das Homeschooling schlecht funktioniert hat, weil die Masken scheußlich sind – egal welcher Meinung man zu dem Thema ist – das ist eine Belastung. Es ist fürchterlich. Aber auch wenn man diese Maßnahmen für sinnvoll und gut hält, muss man die Kollateralschäden anerkennen. Für die Alten und Jungen vor allem. Die sind immens, und die haben wir am Anfang gar nicht abgesehen. Viele haben davor gewarnt, aber die Trümmer tragen wir so langsam in den nächsten Jahren erst beiseite. Da sind psychische Erkrankungen entstanden, gerade bei Jüngeren. Das sind nicht nur die Masken, sondern auch die Kontaktarmut.
Die „Wildnisfamilie“ hat da ihren Weg gefunden. Es entsteht so ein wenig der Eindruck, dass die sich von der Welt abgewandt hätten.
V. T.: Nein, das ist bei den Müttern kein egoistischer Traum, die beraten Eltern, die auch aus dem Schulsystem aussteigen wollen. Die sind sehr sozial eingestellt. Bevor sie diesen Schritt wagten, haben sie noch eine freie Schule gegründet bei sich in Brandenburg. Da haben sie schon etwas bewegt, und ich glaube auch, dass sie durch den Film etwas bewegen werden, denn man lernt viel über Motivation von Kindern und was wir vielleicht in der Schule falsch machen, wenn wir sie dort nicht motivieren können. Das ist insgesamt sicher ein radikaler Schritt, aber für die beiden Frauen sichtbar der richtige Weg. Sie sind selbstkritisch genug, um zu erkennen, dass das nicht unbedingt eine Lösung für jede/n ist. Sie haben eine gewisse Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. Wer den ganzen Tag berufstätig ist, kann so eine komplexe Aufgabe gar nicht realisieren.
Haben Sie jemals in Ihrem Leben einen Tretmühlenjob gemacht?
V. T.: Ja. Ich hatte mehrere solcher Jobs sogar. Es fing an mit der kaufmännischen Lehre. Mit 16 weiß man noch nicht so genau, was man machen soll. Ich bin vor dem Abitur von der Schule runter, habe aber erkannt, dass ich auf keinen Fall in dieser Tretmühle bleiben will. Alles, aber nicht das. Dann habe ich noch etwas Zeit gebraucht, weil ich das Abitur nachholen musste. Das hat mir dann geholfen, so ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu entwickeln.
Eine Lösung zur Rettung der Welt haben Sie aber nicht.
V. T.: Es gibt keine Methoden, mit einem Fingerschnippen das Große und Ganze zu retten. Das Träumen ist ein Rezept, in dem sich jede/r im eigenen Bereich entwickeln kann und die gewohnten Pfade verlassen. Das ist die Voraussetzung, dass die Welt gerettet werden kann, aber es gibt nicht eine einzige Lösung, sondern tausende, hunderttausende dafür an ganz vielen Stellen.
Aber wenn jede/r Einzelne gefragt ist, dann muss man ja das Sofa verlassen.
V. T.: Ja! Das wäre schön, wenn man das nicht nur zum Einkaufen machte.
Wenn ich aber aus meiner Komfortzone nicht heraus will, kann es sein, dass es dann äußere Faktoren sein werden, die mich dazu zwingen?
V. T.: Das stimmt. Viele Menschen werden durch schlimme Ereignisse aus ihrer Komfortzone herausgeholt. Mein Ding ist es nicht, Katastrophengeschichten zu erzählen, um die Leute davon zu überzeugen, dass sie sich in Bewegung setzen sollen. Die fünf Geschichten von den Träumern und Träumerinnen machen doch Mut. Denen ist etwas gelungen. Mir ging es darum, Menschen Lust zu machen, ihren eigenen Träumen hinterher zu gehen.
Und die Träumereien sind keine Spinnereien. Im Juli 2021 hat es die verheerenden Überschwemmungen hier gegeben. Das wäre eine gute Einsatzmöglichkeit für die Lastenballons gewesen.
V. T.: Carl-Heinrich von Gablenz hat trotz der Pleite weiter geträumt und Unterstützung gefunden, aber der Geldfluss ist bei ihm im Augenblick sehr klein. Es ist schade, dass seine Produkte noch nicht serienreif sind, sonst hätte er in die Hochwassergebiete fahren und von der Luft aus etwas ausrichten können.
Für diejenigen, die bei den Hochwassern ihre Bleibe verloren haben, wären die Tiny Houses zumindest eine machbare Zwischenlösung.
V. T.: Und Van Bo Le-Mentzel ist Innenarchitekt und kennt sich mit Bauvorschriften aus, deswegen kann er die auch entsprechend bauen.
Was ist aus dem Erbauer der Inseln aus Plastikmüll geworden? Der hat in Deutschland ja seine ersten Modelle fertig entwickelt und gebaut.
V. T.: Joy Lohmann hat sich jetzt erweitert und baut im Ganges-Delta diese Inseln. Vielleicht auch bald in Bangladesch, wo diese genau so gebraucht werden, weil es dort öfter Hochwasser gibt.
Ihre ProtagonistInnen bewegen sich weitgehend außerhalb des Systems. Viele meinen, dass man innerhalb des bestehenden Systems keine maßgeblichen Veränderungen erreichen kann.
V. T.: Ich würde das anders formulieren. Wir können die drohende Katastrophe nicht verhindern, wenn wir innerhalb des bestehenden DENKsystems verharren. Das vorherrschende Wirtschaftssystem basiert auf der Aussage, dass es keine Alternative dazu gäbe. Aber wenn wir grundsätzliche, neue Ansätze verwirklichen wollen, dann müssen wir auch bereit sein, dieses Grundgebäude zu verändern.
Sie haben mit den Kinofilmen Taste the Waste von 2011 und 10 Milliarden – Wie werden wir all satt? von 2015 große Aufmerksamkeit erzielt. Wie kann man die einschlägigen KinobesucherInnen trösten, dass in dem neuen Film nichts mit Lebensmittelverschwendung oder Ähnliches vorkommt.
V. T.: Wer vermisst, dass ich mich jetzt nicht mit Ernährungsthemen beschäftigt habe, dann liegt das an den beiden genannten Kinofilmen und mehreren Fernsehdokumentationen, von denen viele mit der Ernährung und der Transformation der Gesellschaft zu tun haben. Ich glaube, dass das, was ich mit den Träumen gemacht habe, das Fundament ist, um Lösungen zu finden, nicht nur für sich selbst, sondern für alle.
Es wurde im Prinzip schon alles gesagt, gezeigt und geschrieben. Ist jetzt jede/r Einzelne dran?
V. T.: Wenn es mir mit dem neuen Film gelingt, Menschen dazu zu bringen, etwas zu ändern, dann würde ich mich sehr darüber freuen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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Valentin Thurns Dokumentarfilm Träum weiter! Sehnsucht nach Veränderung: Carl-Heinrich von Gablenz und sein Team arbeiten an der Entwicklung von bahnbrechenden und umweltschonenden Lastenballons | © Alamode Film
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Das Interview fand telefonisch am 30. Juli 2021 statt.
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Interviewerin: Helga Fitzner - 8. September 2021 ID 13128
Valentin Thurn ist Journalist, Filmemacher mit der eigenen Produktionsfirma Thurnfilm und hat 2011 einen Nerv der Zeit getroffen, als er seinen Film Taste the Waste herausbrachte. Darin zeigte er, wie ein Drittel unserer Lebensmittel auf dem Müll landen. Thurn lamentierte aber nicht und beließ es beim immer noch sehr umtriebigen Schreiben und Filmemachen, er fing an, aktiv Menschen zu mobilisieren.
Im Jahr 2013 baute er den Foodsharing e.V. mit auf, eine Initiative zur aktiven Rettung von Lebensmitteln. Im Jahr 2014 gründete er den Verein Taste of Heimat, der eine Plattform für AnbieterInnen und VerbraucherInnen von Lebensmitteln sowie für Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu Ernährungsthemen ist. Es sollen Mensch, Tier und Natur wieder klimaverträglich in den Vordergrund gestellt werden. Am 7. März 2016 wurde der Ernährungsrat für Köln und Umgebung ins Leben gerufen, der sich für die Ernährungssouveränität und die Zusammenarbeit von BürgerInnen und Stadtverwaltung einsetzt und seitdem schon viele Projekte realisiert hat. Über 40 Städte folgen mittlerweile diesem Beispiel und bilden Netzwerke.
Mit seinem Kinofilm Träum weiter! Sehnsucht nach Veränderung zeigt Thurn, dass jede/r Einzelne in der Lage ist, Veränderungen zu bewirken, sofern wir uns auf den Weg machen. Jede/r hat Träume, Fähigkeiten und das innere Wissen, wie man sie umsetzen könnte. Thurn stellt fünf Projekte von Menschen vor, die diesen Aufbruch gewagt haben bzw. wagen wollen.
(H. F.)
Weitere Infos siehe auch: https://www.thurnfilm.de/
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